3. September 2012

Bin ich gut genug?


Während der letzten Wochen hatte ich Gelegenheit, eine mir länger bekannte junge Musikerin in den Umgang mit ihren Emotionen aus dem Gehaltensein in der eigenen inneren Geborgenheit heranzuführen. Dass dies geschehen durfte, war keineswegs selbstverständlich, denn oft hatte sie bei meinen Ausführungen im grösseren Kreis über die feinstoffliche Dimension ihre Augen gerollt und mir mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, dass sie meine Erklärungen als bemühend empfinde.
Irgendwie scheint sie während eines Besuches in Autigny, als sie hier, gemeinsam mit anderen jungen Musikern spielte, aufmerksam geworden zu sein. Zuerst vielleicht, als ich einer ihrer Kolleginnen zeigte, wie sie ihre Akupunktur-Meridiane über die Fingerspitzen aktivieren könne und diese auch gleich spürte, wie dadurch ihre Finger lebendiger und sensitiver wurden. Dann, als ich ihr gegenüber kurz erwähnte, dass ich einen anderen ihrer Musikerfreunde wohl unterstützen könnte, als Musiker sein Bestes geben zu können, gerade wenn er sich in heiklen musikalischen Situationen exponiert fühle.
Als wir schliesslich, einige Wochen später, einen Anlass besuchten, wo die junge Musikerin ein ungeheuer herausforderndes Werk spielte und mit ihrer eindrücklichen Leistung keineswegs zufrieden war, kam von ihr der entscheidende Impuls. Sie hatte im Spiel vor einem Publikum, in dem Menschen sassen, deren Urteil ihr wichtig war, eine emotional bedingte physische Lähmung verspürt, die sie daran hinderte, das Stück so zu spielen, wie sie es möchte und könnte. So fragte sie, ob ich das, was ich mir für ihren Kollegen gedacht hatte, auch mit ihr machen würde.
Nun haben wir viermal miteinander gearbeitet. Es scheint mir glücklich gelungen zu sein, sie weder durch Lehrerhaftigkeit noch durch esoterisch Abgehobenes zu irritieren. Den Einstieg machten wir mit einer bewährten Übung zur Verbindung von Himmel und Erde, beginnend mit einer aus dem Chi-Gong abgeleiteten Bewegung, einen erst imaginierten und dann real erfahrenen Energieball in den Händen haltend, den wir dann unterhalb des Nabels in der Mitte zwischen Bauch und Rücken „eingelagerten“; diesen als Wärme wahrnehmbaren Ort verbanden wir nach unten mit der Vorstellung einer von glühender Lava erhitzten Erdmitte und nach oben mit einer im Unendlichen vorgestellten ewigen und unversiegbaren Quelle von unbedingter Liebe und Weisheit. Wir begannen, die aus der vertikalen Verbindung materieller Dichte und höchster Subtilität resultierende „biegsame Standfestigkeit“ in der körperlichen Bewegung zu erkunden und zu spüren, wie aus der inneren Geborgenheit eine neue kraftvolle Dynamik entstand.
Später zeigte ich ihr diese Vertikale als Atemübung – einatmend aus der Unendlichkeit, vom Beckenboden her, ausatmend nach unten, in Richtung der Erdmitte, von wo als Gegenbewegung gleichzeitig ein feiner, durch uns hindurch ins Unendliche aufsteigender Energiestrom wahrnehmbar wird. Das ging bereits leichter; anfänglich noch dank willentlicher Vorstellungskraft verbunden, die in der späteren Wiederholung immer mehr losgelassen und durch eine subtile Wahrnehmung, gleich einem Hinhören, ersetzt wird.
Diese Vorübungen dienen der gleichzeitigen Verankerung nach unten und der Verbindung mit einer in der Unendlichkeit vorgestellten kreativen Quelle; diese Erfahrungen beugen dem Abheben in weltfremde Dimensionen vor und vermitteln doch gleichzeitig eine erste subtile Erfahrung von Geborgenheit im eigenen Wesen. Auf dieser Grundlage durfte ich sie in eine einfache Vorstellung von drei inneren Ebenen – Vitale Körperlichkeit, Emotionalität und Denktätigkeit – einführen; sie erlebte, wie in diesen drei Bereichen eventuell vorhandene Bewegungen durch ein liebevolles und absichtsloses Hinschauen aus dem „Herz“-Raum hinter dem Brustbein zur Ruhe kommen, und wie hilfreich es ist, diesen Bewegungen liebevoll soviel Raum gewähren, wie sie beanspruchen, um sich ihrem Wesen nach voll „auszuagieren“. Dies im Vertrauen darauf, dass das aus ihrer Quelle genährte Herz seine Arbeit in dem Ausmass und der Zeit tut, wie es für den jeweiligen Menschen richtig ist.
Die junge Musikerin hat schnell verstanden, dass sie nicht ihre körperlichen Blockaden, Emotionen und Denkmuster ist, sondern, dass es sich um Reaktionen innerer, oft alten Prägungen sind, die auf Reize der Aussenwelt antworten. Die meisten von uns tragen aus der persönlichen, wie auch aus der frühesten Menschheitsgeschichte die mit Ängsten und Unwürdigkeitsgefühlen besetzte Frage „bin ich gut genug?“ als Prägung in uns. Wenn exponierte Situationen, wie die Einsamkeit des Künstlers auf dem Podium, dieses alten Muster beleben, können daraus emotionale Wellen in uns aufsteigen, die uns in der jeweiligen Situation daran hindern, unsere besten Möglichkeiten zu verwirklichen.
Wenn die „Beobachterin“ oder „Zeugin“ in uns diese Vorgänge aus einer identifikationsfreien Perspektive wahr- und annimmt, vermag ihr ein aus der innersten Quelle genährtes Herz, heftigste Energiewellen zur Ruhe kommen zu lassen. Es gibt tatsächlich keine emotionale oder mentale Kraft, die sich nicht über kurz oder lang der unbedingten Liebe ergibt; wie könnte es anders sein, wenn wir verstehen, dass die sich autonom gebärdenden Prägungen aus der Illusion der Trennung von der immer schon dagewesenen Geborgenheit entstanden sind?
Besonders sprach die junge Musikerin auf das Einatmen der mit Emotionen befrachteten Sicht auf die äussere Welt, an: von aussen, durch den Herzraum hindurch in die Quelle, die wir uns – als hilfreiches Konzept! – in ihrem Rücken vorstellten, gefolgt von der Ausatmung aus der Quelle ihrer Kreativität, dem Ort unendlicher Liebe und Geborgenheit. So trat sie Schritt um Schritt in die innere Vorstellung einer bevorstehenden, für sie als junge Musikerin sehr herausfordernden Situation ein und befreite sie Mal um Mal von den durch die einzelnen Schritte ausgelösten Emotionen. Bis sie schliesslich mitten drin sass und sich vorstellte, wie sie im Verein mit Anderen ihren Platz aus einer inneren Freude auszufüllen vermochte.
Sie erlebte, wie das aus der Quelle leuchtende Herz vermag, einen grossen Konzertsaal aus der Einsamkeit auf dem Podium bis in die hinterste Reihe zu beleuchten; vorerst einmal in der inneren Vorstellung. Anschliessend übte sie praktisch auf ihrem Instrument, wie sich dieses Leuchten mit dem Klang des Instrumentes vermischt und in den Raum hinaus trägt. Aus dem Nebenzimmer, wo ich mittlerweile andere Dinge erledigte, nahm ich ihr Spiel wahr und freute mich darüber, wie ihr Klang, zuerst einfacher Töne, mein Herz berührte und wärmte. Sie lernt schnell!
Am letzten Tag geleitete ich sie jenen zeitfreien Raum ohne Anfang und Ende, der die Beobachterin umgibt, um ihr schliesslich zu suggerieren, die noch bestehende Trennung zwischen ihr und dem sie umgebenden Raum einschmelzen und sich in den Urgrund einzulassen oder - vielmehr - ganz diesen Urgrund zu sein. So forderte ich diesen Urgrund allen Seins auf, aus der Unendlichkeit ein Bild oder Symbol jenes unverwechselbaren Funkens vorzustellen, der die Einzigartigkeit von Potenzialen enthält und die Rolle ihrer Person in der Welt konstelliert. Kein Wunder, dass der Wesenskern der jungen Musikerin sich als farbiges Licht zeigte; ein Bild, das auf ihrem Gesicht abzulesende Freude erweckt haben muss. Auf dem Weg zurück in die Gegenwärtigkeit rief ich sie auf, ganz in diesen Wesenskern hinein zu rutschen und von da , auf die Person zu schauen, die jetzt auf dem Sofa sass. Schliesslich sollte sie ganz wieder in den Körper einzutauchen; in eine "Per-son", die jetzt um eine innere Landkarte weiss, um ihren Ursprung im Urgrund als ein einzigartiges Selbst, das sich im Alltag als die wunderschöne und kreative junge Musikerin manifestiert, die sie ist..Einmal mehr bin ich dankbar, Zeuge einer bedeutsamen Reise sein zu dürfen; ein grosser Vertrauensbeweis und ein Privileg, das ich dankbar zu schätzen weiss!

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