30. März 2008

> Lebenswandel(n)

Oft - so wie heute - geniesse ich es, den Sonntag mit einem ausgiebigen Aufenthalt in der Badewanne zu beginnen; am liebsten mit einem inspirierenden Buch. Bei der Wahl der Lektüre hat mich diesmal ein Büchlein angelacht, das schon seit einigen Wochen unscheinbar auf meinem Schreibtisch liegt: "Lebenswandeln - Vom guten Umgang mit Veränderung" von Edmond Tondeur, der vor vielen Jahren meinen Wandel vom oft schwerhörigen Solisten zum Kammermusiker ganz wesentlich mit in Gang gebracht hat.

Das kleine Buch ist reich an Gedankenanstössen, und es lohnt, in kleinen Portionen gelesen zu werden; damit nicht die eine Blüte die andere übertönt, bevor die Resonanz der ersten ganz aufgehen konnte. Ich habe auch alte Bekannte getroffen, die ich aber noch nie so gelesen oder gehört habe, wie eben jetzt. Etwa den Anfang eines Gedichts des persischen Mystikers Rumi:

"Achte gut auf diesen Tag,
denn er ist das Leben -
das Leben allen Lebens"

Oder die letzten Verse von Goethe's Gesang der Geister über den Wassern, deren Weisheit mir erstmals so bewusst geworden ist:

Wind ist der Welle
lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
wie gleichst Du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
wie gleichst du dem Wind!

Es sind Edmond Tondeurs feinsinnige Texte, von erfahrenem Lebenswandel geprägt, die mich eben für eine neue Tiefe hellhörig gemacht haben. Auf den ersten Blick wenig spektakuläre Sätze, wie diese:

Es kann sich lohnen, das, was Sie gerade tun, einmal in Zeitlupe wahrzunehmen; Schritt für Schritt anzuschauen, wie sich Ihr Leben gerade jetzt an diesem Tag abspielt. Wenn Sie dann, in der Rückschau auf das Beobachtete, sagen können: "Dies war mein Lebenswandel heute", dann begreifen Sie ganz real die Tragweite dieses Satzes. Sie erkennen, dass Sie auf dem Bindestrich zwischen Ihrer Geburt und Ihrem Sterben (denken Sie an Grabsteine!) wieder eine kleine Strecke zurückgelegt haben.

Oder:

Man spricht vom "Lebenswandel" dieser Frau oder jenes Mannes - und rümpft dabei vielleicht die Nase. Aber: Das schönste Kompliment, das ich einem Menschen machen kann, ist, dass er sein Leben wandelnd verbringt. Lustwandelnd, wenn's sein darf, und ebenso, weil unvermeidbar, leidwandelnd.

In seinem Echo auf mein Buch "Eine Welt oder keine" schreibt mir Edmond Tondeur: ... Es geht darum, dass sich jeder und jede dem, was ihm/ihr in der konkreten Lebenssituation als Anfrage (Auftrag) des Lebens begegnet, zur Verfügung hält (und sei es noch so klein, unspektakulär, unbeachtet). Dies begründet, so wie ich es verstehe, eine "Alltags-Mystik", die nicht elitär unterscheidet zwischen den "Grossen Fragen" (z.B. an Konferenzen) und dem "ganz normalen Kleinkram" (in den Wohnstuben). "Mitgefühl" ist in diesem Zusammenhang - das wirst Du kaum anders sehen - ein Schlüsselwort.

Danke, Edmond, für Deine Gedanken, Dein Buch, Dein - wie ich weiss - wirksames Sein!
Den Lesern dieser Zeilen empfehle ich das kleine Büchlein von Herzen!

28. März 2008

> Das Sri Yantra und der Stern Davids: Verbundenheit im ewigen Augenblick


Im Januar, während meiner Indienreise, habe ich meine spontane Schau von zwei Dreiecken beschrieben, die sich schliesslich in einer Figur verschränkten, ähnlich dem indischen Sri Yantra (Symbol für das Göttliche) und dem Stern Davids (Symbol des Judentums). Gestern sprach mich Annette Kaiser darauf an und fragte nach meinem Verständnis dieses Diagramms. Meine Verdeutlichungen habe ich in aufrechter Schrift in den kursiv dargestellten Textauszug hineingestellt.

Ob diesem Frieden lacht mir das Herz, dessen Waerme ich schon beim Fruehstueck gespuert habe, als ich einem anderen Gast von meiner beglueckenden Arbeit erzaehlte; und ich weiss, dass diese Herzenswaerme meiner innersten Quelle entspringt. Nun ist es, wie wenn die ganze Welt um mich, auch von dieser Herzenswaerme erfuellt waere: wo ich hinschaue, schwingt es mir so entgegen. Das ist die Basis eines imaginaeren Dreiecks: die Resonanz des Einen in meinem Herzen am einen, die Resonanz des Einen in der Umwelt am anderen Ende. Und darueber die Spitze: der eine, ungeteilte Urgrund. Und wieder saugt mich die Erfahrung unwiderstehlich in sich hinein. Ich bin alle drei zugleich, kann vom einen ins andere wechseln oder ganz im Dreieck sein.
Die Herzverbindung von Innen- und Aussenwelt bildet die Basis des Dreiecks, das Eine die Spitze.

Dann mache ich mich auf den Abstieg von der Huegelspitze und setze mich etwas weiter unten nieder. Auf den bequemen Baenken unter schattigen Baeumen, ein Aussichtsplatz, der wohl vor vielen Jahren von entdeckungsfreudigen Englaendern angelegt wurde. Wie ich so vor dem alten Tisch sitze und auf die Tischflaeche sehe, tritt mir ein weiteres Dreieck vor Augen. Wieder die gleiche Horizontale: vom Herzen in mir zum Herzen in der Welt, doch diesmal ist seine Spitze nach unten gerichtet. Das Bild meint die Ausrichtung dieser inneren Verbundenheit auf den aktuellen Augenblick, auf das Denken und Handeln in der Gegenwart.
Bei diesem, auf dem Kopf stehenden Dreieck bildet wieder um die Herzverbindung zwischen aussen und innen die Basis; die nach unten gerichtete Spitze meint das JETZT in der dualen Welt unseres Alltags.

Schliesslich verschiebt sich das nach unten ausgerichtete Dreieck nach oben, so dass das Bild zweier ineinander verschraenkter Dreiecke entsteht: eines zeigt mit der Spitze nach oben, das andere nach unten. In Indien ist das Bild als Shri Yantra bekannt; wir kennen es auch als Davidsstern. Es wird fuer mich von nun an eine neue, von eigener Erfahrung getrankte Bedeutung haben.
Wenn sich die Dreiecke ineinander verschränken - wie eben im Sri Yantra oder im Davidstern - steht dies für mich als Gleichzeitigkeit der Ausrichtung auf das ewige, unendliche Eine und den gegenwärtigen Augenblick in der dualen Welt. Ein Symbol für das Leben aus dem Einen in der Gegenwart: ewiger* Augenblick!

(*Ewig: nicht im zeitlichen Sinn - Chronos - verstanden, sondern eben als mit der Ewigkeit verbundener Augenblick)

22. März 2008

> Leading from the future as it emerges

Synchronizität: Kurz nach meinem letzten Eintrag (19. März 2008) zum Thema “Ent-scheiden" aus verschiedenen Bewusstseinsebenen, bin ich auf eine sehr schöne Beschreibung schöpferischen Handelns aus der gegenwärtigen Verbundenheit mit dem Feld der emergierenden Zukunft gestossen. Dies im neuen Buch „Theory U“ des am MIT in Boston wirkenden deutschen Organisationsentwicklers Otto C. Scharmer: eine inspirierende Anleitung zur Kreativität aus dem schöpferischen Urgrund - zum Wohle des Ganzen, praktische Spiritualität ohne jeden Weihrauch.
(Theory U. Leading from the Future as it Emerges. Cambridge, Mass., USA, 2007)

To deal with the enormous institutional challenges of our time, organizations and larger Systems need to embrace and activate a superior governance mechanism: seeing and operating from presencing the emerging whole.

• Think of a master educator who looks at her Student, who is at one with her and the presence of her highest future potential, and then acts very quickly in ways that help the Student to progress on her journey of realizing that Potential.
• Or think of a farmer who takes a walk in his field on Sunday and who uses that as a mechanism to establish a direct connection to the living presence of his fields and then tries to tune into what that living ecosystem wants him to do next.
• Think of a physician who takes into account not only the technical-scientific aspects of her patient-physician relationships, but also the deeper mental, social, and spiritual layers of those relationships, connecting to the authentic presence of each patient’s self, and then starts to act from that, trying to be in service of that authentic self.
• Think of leaders who, like Mahatma Gandhi or Nelson Mandela, have operated by connecting with a much larger collective field and who through their actions began operating from the presence of that collective field, serving as a vehicle for the best future possibility of that field to come into being.
• All of these examples are performed by individuals. But the fundamental challenge of our time is to learn to do exactly the same thing: operate from the presence of the evolving whole - collectively, not just individually. Almost all of the major challenges of our time require us to operate this way. Yet we haven’t yet learned how to do it.

19. März 2008

> Entscheiden: rational, integral, spirituell (B)

Mein letzter Eintrag liegt schon mehr als einen Monat zurück. Viel ist in dieser Zeit geschehen. Zuletzt ein Vortrag zur seelischen Gesundheit von Wirtschaft und Gesellschaft in Berlin sowie wertvolle Gespräche dort und auf dem Heimweg - per Bahn - in Fulda und Mannheim.

Heute fand ich in der Post den Brief eines Freundes, der eben eine für sein Leben wesentliche Entscheidung getroffen hat. Es ist nicht zum ersten Mal, dass er davon spricht, dass wir im Leben nicht umhin kommen, erst zu prüfen und dann zu entscheiden.

Als ich dieses Wort erneut las, sah ich drei Bewusstseinsebenen vor mir - im Sinne der Gedanken von Jean Gebser oder Ken Wilber - sowie drei Wirkungsweisen von umgesetzten Intentionen, je nach ihrem Zustandekommen:
Auf der rationalen Ebene prüfen wir Handlungsoptionen und entscheiden uns für die eine oder andere. Die gewählte erhält die gesamte Verwirklichungsenergie; die anderen gehen leer aus. Wie beschränkt diese Entscheidungsweise ist, sehen wir, wenn wir uns vorstellen, dass alle Handlungsoptionen Menschen mit involvieren, von denen dann einige leer ausgehen.

Aus der integralen Sicht verstehen wir den Sinn des Wortes "ent-scheiden", im Sinne von vereinigen oder ganz machen. Am plakativen Beispiel von Kommunismus und Kapitalismus: Können wir die besten Seiten beider Möglichkeiten in ein neues Ganzes, auf einer umfassenderen Ebene integrieren? Den Aspekt der Solidarität des Kommunismus, verbunden mit Initiative und Kreativität des Kapitalismus? Und könnte daraus nicht ein neues, die Menschen vereinigendes Potenzial entstehen? Evolution des Bewusstseins?

Aus der spirituellen Ebene wird sich die Frage nochmals anders stellen: Sind wir mit dem Seinsgrund - der Quelle unserer tiefsten Weisheit und Liebe - verbunden, werden wir unmittelbar erkennen und verstehen, was die jeweilige Situation von uns braucht. Sehen, erkennen, verstehen, handeln: keine Fragen. Dabei wird klar, dass die Zweifel, die uns zum entscheiden oder ent-scheiden zu zwingen scheinen, aus unseren eigenen Befürchtungen und Wünschen stammen. Sind sie erst einmal aufgelöst, liegt die Situation mit ihrem allfälligen Handlungsbedarf offen da; ohne wenn und aber.