29. Juli 2008

Involution - Ein Versuch

Im Zusammenhang mit persönlicher und kollektiver Entfaltung sind wir gewohnt, unser Augenmerk auf den evolutionären Aspekt zu richten. Damit sich aus dem BigBang ein Kosmos entfalten konnte, damit sich aus Same und Ei ein Mensch entfalten kann, damit sich aus dem immer neuen Augenblick das Jetzt entfaltet, muss ein Akt der Involution vorausgegangen sein und sich laufend wiederholen. Eine Involution unvorstellbar hoch konzentrierter Energie und auch von Information: von unendlichen Potenzialen die sich weiterhin zu Wahrscheinlichkeiten und Manifestationen entfalten, die durch stete Wiederholung zu "kosmischen Gewohnheiten", zu soliden Manifestationen unterschiedlicher Lebensdauer werden. (Vielleicht stehen jetzt meinem lieben Freund und Physiker George Weismann ob der laienhaften Schilderung die Haare zu Berge?)

Auf der Website des Integral Spiritual Center vermittelt Ken Wilber in einer Audio-Datei ein leicht verständliches Bild, wie sich der einzelne Mensch und der immer neue Augenblick durch die immer gleichbleibenden Stadien entfaltet, wie sie der Evolution der Schöpfung entsprechen:

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Körperbewusstsein:
Identität mit Körper und Lebensimpulsen
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Seelenbewusstsein:
Eingebundensein in Gefühle und Gedanken
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Zeugenbewusstsein (entspricht BigMind):
Wahrnehmung des ständig neuen Ursprungs aller Phänomene -
Materie, Gefühle, Gedanken - aus dem Einen:
Freiheit von den Manifestationen
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Einheitsbewusstsein (Nonduales B.):
Zeuge und Wahrgenommenes verschmelzen im Einen
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Die Involution beinhaltet die Essenz aller vier Ebenen - und vielleicht noch unendlicher, übersteigender, für das menschliche Bewusstsein noch nicht erfahrbarer Ebenen - die sich in der Evolution von Augenblick zu Augenblick neu entfalten. Dabei ist - wie eben gesagt - die Erfahrung der Wahrnehmenden durch den Grad ihrer Bewusstseinsentfaltung geprägt bzw. begrenzt.

Versuchen wir einmal, uns für dieses ständige Spiel von Involution und Evolution in uns zu öffnen: als energetische Erfahrung, für jene, denen dies leicht fällt, oder als (nahezu) gleichzeitige Wahrnehmung der vier uns zugänglichen Ebenen: Körper - Seele - Zeuge - Einheit.

Diese (nahezu) gleichzeitige Gegenwärtigkeit auf allen Ebenen vermittelt einen Zugang zum Leben im Augenblick von ganz besonderer Qualität. Bereitschaft zum Mitgestalten der Gegenwart aus einer breiten Schau auf die Zusammenhänge und die Erfordernisse des Augenblicks: durchaus nicht absichtslos, doch frei von der Bindung an ein Ergebnis, das als solches von relativer Bedeutung ist. (Ergänzungen und Konkretisierungen sind willkommen!).

Das ist wohl, was wir uns unter einem postmodernen Bodhisattva vorstellen können?

22. Juli 2008

Schneller und tiefer Wandel

Immer wieder überrascht mich in letzter Zeit die zunehmende Schnelligkeit und Tiefe von Wandlungsprozessen in der Bewusstseinsarbeit. Es scheint mir - nicht zum ersten Mal - wie wenn die Vorarbeit vieler Anderer, die den Weg gegangen sind, das kollektive Bewusstsein so konditioniert hätte, dass die Nachfolgenden in den geprägten Spuren gleiten könnten? Klar, dass solche "Diagnosen" letztlich nicht mehr als Vermutungen sind; doch, wenn wir uns - im Sinne eines laienhaften Verständnisses der Quantenphysik - als Differenzierungen eines umfassenden Feldes von Potenzialen, Wahrscheinlichkeiten und Phänomenen sehen, die sich beständig neu manifestieren, klingt dies gar nicht so unwahrscheinlich?

Was diese Gedanken eben gerade auslöste: der nachstehende Erfahrungsbericht; verfasst sieben Wochen nach Abschluss eines viertägigen Einzelretreats.

Rück- und Ausblick nach dem Bewusstseins-Entfaltungs-Prozess
vom 26. bis 29. Mai 2008


Fragen von Hans und Antworten von XX

Wie hat sich Dein Verständnis Deines Daseins und Deiner Beziehung zur Umwelt verändert?:
Das Verständnis meines Daseins hat sich nach dem Retreat mit Dir und den nachfolgenden
sieben Wochen „Auszeit vom Geschäft“ insofern verändert, dass es mir mehr und mehr
gelingt, zu mir selbst zu kommen, meinen Verstand in meinen Meditationen phasenweise
auszuschalten und in meinem eigentlichen Sein oder eben Nicht-Sein zu weilen. Dieser
Zustand lässt sich nicht beschreiben, ich empfinde ihn als wunderbar, es gibt in ihm keine
Fragen und Antworten mehr – sie haben sich aufgelöst …
Eingebettet in dieses EINE, oben eben erwähnte „Sein oder Nicht-Sein“ empfinde ich mich in
der Beziehung zur Umwelt so nicht mehr als von ihr getrennt, sondern einfach als Teil des
Ganzen. Ausserhalb der Meditation gibt mir meine Erfahrung die Gewissheit, dass dies
tatsächlich so ist, obwohl mich die Dualität unseres Verstandes natürlich immer wieder
täuscht und die Umwelt, als etwas „ausserhalb von mir“ betrachtet.

Welche Erkenntnisse in Bezug auf Deine bis anhin dringlichsten Fragen ergeben sich
daraus?:
Wir Menschen sind EINS mit dem ganzen Universum, unsere Getrenntheit ist eine Illusion
unseres Verstandes, welcher nur in der Dualität existiert und dauernd in Objekte und Subjekt
unterteilt. Einssein mit dem Universum bedeutet auch, innerhalb der eigenen Möglichkeiten,
unsere universelle Verantwortung zu übernehmen.
Auf welche Erfahrungen tieferen Seins, wir können es auch Segen oder Gnade nennen, wirst
Du Dich auch in Zukunft beziehen wollen?:
Ich möchte resp. muss mich künftig auf die erwähnte „Sein oder Nicht-Sein“ Erfahrung
beziehen. Für mich ist sie die höchste Bewusstseinsstufe, welche ich bisher erfahren durfte.

Wie sehen Deine neuen Prioritäten und Ausrichtungen aus?
Ehrliche Einfachheit und Klarheit. Damit meine ich, dass ich in meinem Umfeld versuche, all
die Tricks welcher unser Verstand immer wieder anwendet, um unsere Egos zu pflegen, resp.
unser Einssein mit der Schöpfung zu untergraben, aufzudecken. In den Beziehungen zu
meinen Mitmenschen heisst dies, dass ich versuche aus diesem neutralen Einssein heraus, zu
beobachten und sie zu verstehen und entsprechend verständnisvoll (zuzusagen wie in eigener
Sache) zu reagieren.

Mit einer kurzfristigen im Alltag zu vollziehenden und sichtbaren Massnahme wirst Du ein
Zeichen für Deine neue Ausrichtung setzten:
Siehe vorangehende Antwort.

21. Juli 2008

Gelesen: Hirnforschung und Meditation

Von zwei Büchern sprach ich in meiner gestrigen Tagesnotiz, um dann gleich auf das zweite der Beiden einzugehen. Das erste heisst "Hirnforschung und Mediation". Es ist ein Dialog zwischen Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher, und Matthieu Ricard, ursprünglich Molekularbiologe, der dann buddhistischer Mönch wurde. Für dieses Buch treten beide in einen Dialog über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Bewusstseinstraining. Sie sprechen darüber, welche mentalen Zustände mit meditativen Praktiken herbeigeführt werden sollen, welche neuronalen Vorgänge diesen zugrunde liegen, und sie fragen, ob regelmässiges Meditieren zu nachweisbaren Veränderungen von Hirnfunktionen führt.

Ich habe die Lektüre des kleinen Büchleins als wertvoll empfunden, weil ich aus einem anderen Aspekt heraus wieder die Bestätigung fand, wie sehr unser „automatisches“ Denken, Fühlen und Handel den Konditionierungen entspringt, die wir aufgrund unserer persönlichen Geschichte, wie auch als Ergebnis „unseres Zweigs der Bewusstseinsevolution“ in uns tragen. Auch die innere Haltung des Zeugen - für mich die erste Voraussetzung für eine mögliche Freiheit von diesen Prägungen - beruht auf der Konditionierung durch Wiederholung dieses Bewusstseinszustandes. Gleiches gilt für die innere Haltung der Empathie – diesmal für unsere eigene Bedingtheit – als Voraussetzung für die Transformation eben dieser, uns begrenzenden Konditionierungen. Das führt mich weiter zur Frage, wie denn überhaupt die Anteile von Konditionierung und wirklicher Freiheit bei der Wahl meines Weges verteilt seien: ist nicht weitgehend durch Umfeld und Geschichte vorgeprägt, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, diesen Weg zu wählen?

Vielleicht ist der Anteil wirklicher Freiheit an unserer eigenen Entfaltung tatsächlich kleiner als wir annehmen? Gleichzeitig wirken wir durch unser Sein aber auch prägend auf unser Umfeld. So bleibt auch im Rahmen einer bedingten Freiheit noch Raum, unsere Mitverantwortung für die Welt, wie wir sie eben jetzt erfahren, mitzugestalten. Und auch wenn dieser Gedanke bereits wieder Resultat von Konditionierung sein sollte, nehme ich die „Freiheit“ wahr, dies gerade jetzt aufzuschreiben und mit den Lesern dieser Notiz zu teilen: als mein Anteil an der Konditionierung des Kollektivs, dessen sich beständig erneuernder Zustand Resultat unserer aller Einwirkungen ist.

Hier noch ein kleiner Ausschnitt aus dem lesenswerten Buch:

WS (Wolf Singer) …. Genau das ist eines der Ziele …. die Fähigkeit zu stärken, unsere Emotionen im Zaum zu halten.

MR (Matthieu Ricard) Ja, aber erst musst du sie erkennen. Es ist sehr wichtig, die Gedankenkette genau in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie beginnt. Zuerst muss man sich darüber klar werden, welche Geisteszustände zu innerem Leid führen und welche zu Wohlbefinden. Außerdem muss man, wie vorhin erwähnt, feine Nuancen unterscheiden, etwa Nächstenliebe von sexuell motivierter Liebe oder zerstörerische Wut von berechtigter Empörung.

WS Und du gehst davon aus, dass Menschen mit grosser Meditationserfahrung besser als andere zwischen den verschiedenen Schattierungen von Liebe unterscheiden können, Leidenschaft, Verlangen, Besitzenwollen, Abhängigkeit und Altruismus.

MR Das gehört zum Training.

WS Wenn dies wirklich möglich ist, wäre es von grosser Bedeutung. Auch die Psychoanalyse nimmt für sich in Anspruch, einem erkennbar zu machen, dass das, was man mitunter für reine Liebe hält, Zuneigung und Leidenschaft, Folge eines grandiosen Missverständnisses sein kann, einer projektiven Sehnsucht, endlich Zugang zur Mutter zu finden, die das kleine Kind vernachlässigt hat, eine Sehnsucht, die natürlich mit völlig anderen emotionalen Konnotationen einhergeht als die reife Liebe.

Hirnforschung Meditation. Ein Dialog. Wolf Singer. Matthieu Ricard. Edition Unseld. Suhrkamp Verlag. 2008

20. Juli 2008

Spiritualität in einer aufgeklärten Welt

In den letzten Tagen habe ich zwei Bücher gelesen, die mich besonders berührt haben und die ich deshalb hier empfehle. „Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“ ist der Untertitel des zweiten: „Freud lesen in Goa“ von Sudhir Kakar, Psychoanalytiker und Schriftsteller in Goa, Indien.

Besonders interessiert haben mich die Kapitel „Empathie in der Psychoanalyse und in der spirituellen Heilung“ sowie „Religion und Psyche: Freud lesen in Goa“. Stellvertretend für den reichen Gehalt des schlanken Buches, hier ein Zitat aus dem Nachwort, was mir hoffentlich weder der Verlag noch der Autor verübeln wollen:

Um die Beziehung zwischen Geist und Psyche zusammenzufassen, muss ich nach einer Metapher greifen, die Körper, Geist und Psyche als zutiefst verwandte Einheiten versteht. Mit unscharfen, ineinander fließenden Grenzen. So stelle ich mir die Psyche als einen großen See vor. Die Wasser dieses Sees sind warm, aufgeheizt von den Energien der Sexualität, Aggression und vor allem vom Narzissmus, die von der ihn umgebenden Erde – dem Körper – in ihn hineinfließen und das Wasser in Unruhe halten. Kräuselnde Wellen können zu Wogen von beängstigender Größe werden. Am Grund des Sees fließt der kühle Strom des Geistes, seine Wasser werden genährt aus der unterirdischen Quelle der Verbindung – –der liebenden Verbindung – und sind aufgrund der unterschiedlichen Temperatur beider von den oberen Schichten getrennt. Spirituelle Adepten tauchen häufig und tief in diesen Strom ein, obwohl es vermutlich keinen unter ihnen gibt, der nicht auch in den flacheren Bereichen des Sees verweilt und die Freuden, Leiden und Umstände unserer gemeinsamen Menschlichkeit teilt.

Wir gewöhnlichen Sterblichen sind jedoch auch nicht ganz von diesem spirituellen Strom abgeschnitten. Aufgrund der Unruhe des Lebens drängt das kühle Wasser der unteren Schichten oft in einem kleinen Rinnsal, selten als Flut an die Oberfläche. Dies sind wahrnehmbare Augenblicke der Hochstimmung, die man in der Natur, in Begeisterung vor einem Kunstwerk oder in Momenten unaussprechlicher Vertrautheit erfährt, wenn zwei Körper sich nach der Liebe voneinander gelöst haben und Seite an Seite nebeneinander liegen, sich aber noch nicht wie zwei getrennte Wesen fühlen. Es gibt viele weitere solche Momente, kleinere Ereignisse, die sich unserer bewussten Wahrnehmung entziehen, da wir erwarten, dass das Spirituelle eher eine Ausnahme als die Regel im menschlichen Leben ist.

Noch nie habe ich mich einem „Freudianer“ so nahe gefühlt. Und ich freue mich auf den Kongress "Globalisierung und Identität" - Samstag 04. und Sonntag 05. Oktober in Berlin, wo wir jeweils am gleichen Tag unsere Vorträge und Workshops halten werden: "Globalisierung und Psyche" (Prof. Sudhir Kakar) und “Transreligiöse Spiritualität - Identitätsbildung jenseits religiöser Engführungen (Hans Jecklin).

Sudhir Kakar: Freud lesen in Goa. Verlag C.H. Beck. 2008