21. Juli 2008

Gelesen: Hirnforschung und Meditation

Von zwei Büchern sprach ich in meiner gestrigen Tagesnotiz, um dann gleich auf das zweite der Beiden einzugehen. Das erste heisst "Hirnforschung und Mediation". Es ist ein Dialog zwischen Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher, und Matthieu Ricard, ursprünglich Molekularbiologe, der dann buddhistischer Mönch wurde. Für dieses Buch treten beide in einen Dialog über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Bewusstseinstraining. Sie sprechen darüber, welche mentalen Zustände mit meditativen Praktiken herbeigeführt werden sollen, welche neuronalen Vorgänge diesen zugrunde liegen, und sie fragen, ob regelmässiges Meditieren zu nachweisbaren Veränderungen von Hirnfunktionen führt.

Ich habe die Lektüre des kleinen Büchleins als wertvoll empfunden, weil ich aus einem anderen Aspekt heraus wieder die Bestätigung fand, wie sehr unser „automatisches“ Denken, Fühlen und Handel den Konditionierungen entspringt, die wir aufgrund unserer persönlichen Geschichte, wie auch als Ergebnis „unseres Zweigs der Bewusstseinsevolution“ in uns tragen. Auch die innere Haltung des Zeugen - für mich die erste Voraussetzung für eine mögliche Freiheit von diesen Prägungen - beruht auf der Konditionierung durch Wiederholung dieses Bewusstseinszustandes. Gleiches gilt für die innere Haltung der Empathie – diesmal für unsere eigene Bedingtheit – als Voraussetzung für die Transformation eben dieser, uns begrenzenden Konditionierungen. Das führt mich weiter zur Frage, wie denn überhaupt die Anteile von Konditionierung und wirklicher Freiheit bei der Wahl meines Weges verteilt seien: ist nicht weitgehend durch Umfeld und Geschichte vorgeprägt, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, diesen Weg zu wählen?

Vielleicht ist der Anteil wirklicher Freiheit an unserer eigenen Entfaltung tatsächlich kleiner als wir annehmen? Gleichzeitig wirken wir durch unser Sein aber auch prägend auf unser Umfeld. So bleibt auch im Rahmen einer bedingten Freiheit noch Raum, unsere Mitverantwortung für die Welt, wie wir sie eben jetzt erfahren, mitzugestalten. Und auch wenn dieser Gedanke bereits wieder Resultat von Konditionierung sein sollte, nehme ich die „Freiheit“ wahr, dies gerade jetzt aufzuschreiben und mit den Lesern dieser Notiz zu teilen: als mein Anteil an der Konditionierung des Kollektivs, dessen sich beständig erneuernder Zustand Resultat unserer aller Einwirkungen ist.

Hier noch ein kleiner Ausschnitt aus dem lesenswerten Buch:

WS (Wolf Singer) …. Genau das ist eines der Ziele …. die Fähigkeit zu stärken, unsere Emotionen im Zaum zu halten.

MR (Matthieu Ricard) Ja, aber erst musst du sie erkennen. Es ist sehr wichtig, die Gedankenkette genau in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie beginnt. Zuerst muss man sich darüber klar werden, welche Geisteszustände zu innerem Leid führen und welche zu Wohlbefinden. Außerdem muss man, wie vorhin erwähnt, feine Nuancen unterscheiden, etwa Nächstenliebe von sexuell motivierter Liebe oder zerstörerische Wut von berechtigter Empörung.

WS Und du gehst davon aus, dass Menschen mit grosser Meditationserfahrung besser als andere zwischen den verschiedenen Schattierungen von Liebe unterscheiden können, Leidenschaft, Verlangen, Besitzenwollen, Abhängigkeit und Altruismus.

MR Das gehört zum Training.

WS Wenn dies wirklich möglich ist, wäre es von grosser Bedeutung. Auch die Psychoanalyse nimmt für sich in Anspruch, einem erkennbar zu machen, dass das, was man mitunter für reine Liebe hält, Zuneigung und Leidenschaft, Folge eines grandiosen Missverständnisses sein kann, einer projektiven Sehnsucht, endlich Zugang zur Mutter zu finden, die das kleine Kind vernachlässigt hat, eine Sehnsucht, die natürlich mit völlig anderen emotionalen Konnotationen einhergeht als die reife Liebe.

Hirnforschung Meditation. Ein Dialog. Wolf Singer. Matthieu Ricard. Edition Unseld. Suhrkamp Verlag. 2008

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