11. Januar 2008

> Indische Tempelrituale in multidimensionaler Erfahrung

Seit einer Woche sind wir nun in Suedindien unterwegs. Waehrend der letzten vier Tage haben wir in der Umgebung von Mysore mehrere vom Tourismus noch kaum beruehrte Doerfer und deren durch einen verwurzelten Volksglauben noch immer belebte Tempel besucht. Immer wieder wurden wir zu Tempelritualen eingeladen, und wir liessen uns ganz auf die archaische Intensitaet dieser Rituale ein. Besonders eindruecklich: Ein abendliches Ritual fuer die vierte Inkarnation des Gottes Vishnu in der Gestalt eines Loewen. Ein Gottesbild, das durch seine reizbare Grausamkeit in den Glaeubigen Respekt und Furcht erregt. Seine Zuneigung muss immer wieder aufs Neue erworben werden; dann wird der Gott zu einem machtvollen Beschuetzer in den schwierigsten Lebenssituationen.

Das abendliche Tempelritual, bestehend aus der Waschung der seine Gegenwart repraesentierenden Statue - Abishek - und ihre anschliessende Verehrung durch die Lichterzeremonie - Arati - sind Ausdruck dieser Zuwendung. Waehrend des Abishek wird die lebensgrosse, einen aufrechtsitzenden Loewen darstellende Steinfigur - wieder und wieder mit Dutzenden von Litern von Yoghurt, Milch, Ghee und Wasser uebergossen, immer begleitet durch die Rezitation von Mantren - Versen aus den heiligen Schriften - und den dazu vorgegebenen rituellen Gesten - Mudras. Schliesslich wir die Statue noch mit einem Pulver von Sandelholz und Kurkuma ueberzogen und ein letztes Mal gewaschen.

Nach Abschluss des Rituals wird der Vorhang vor den Zugang zum Allerheiligsten gezogen. Nur ein Bramahne darf anwesend sein, wenn Kessel um Kessel von frisch gekochter, koestlich duftender Nahrung vor die Statue gestellt wird, damit Vishnu sein Mal in Ruhe geniessen kann. Dann wird die Tuer fuer die Nacht geschlossen. Die reichhaltigen Speisen werden anschliessend als gesegnete Mahlzeit - Prasad - unter die Anwesenden verteilt.

Es war mir nicht moeglich - und ich habe es auch gar nicht erst versucht - mich der Intensitaet dieser Vorgaenge zu entziehen. Der Ort ist durch die Wiederholung dieser Rituale auch so mit Energie getraenkt, dass ich in eine hochintensive Stille und Gegenwart geradezu hineingezogen wurde. Ich spuerte, wie die Loewenkraft in mir aufstieg, deren zerstoererisches Potenzial ich nur zu gut kenne. Mein "Rechthaber" meldete sich, der so insistent und wuetend werden kann, dass er alles bessere Wissen ueberflutet und nicht aufzugeben bereit ist, bis er die Anerkennung seiner Meinung durchgesetzt hat. Ja, das ist mein Vishnu in Loewengestalt, und ich muss liebevoll mit ihm umgehen, ihm meine Zuneigung geben, damit er sein bedrohliches Gesicht verliert und zu meinem ebenso maechtigen wie guetigen Helfer wird. Es ist die Identifikation meines personalen Ich mit dieser maechtigen Sonnenkraft, die in Machtbesessenheit abgleitet, wenn sie angezweifelt oder gar bekaempft wird.

Am Vormittag nach dem Ritual treffen wir den Bramahnen ganz kurz, weil er uns seinen Segen mit auf den Weg geben will, und es wird schnell klar, dass er im Ritual nicht die individuelle Auseinandersetzung der Glaeubigen mit ihren dunkeln Seiten im Blick hat. Sie fuerchten die grimmigen Seiten des Schicksals, dem sie eine aeussere goettliche Gestalt zuschreiben, und sie soll milde gestimmt werden, damit sie ihren Anhaengern seinen Schutz im Alltag gewaehrt: ein mythisches, von Respekt und Furcht bestimmtes Gottesbild.

Mir wird dabei klar, wie die selben religioesen Bilder auf den verschiedenen Bewusstseinsebenen immer wieder neu verstanden werden koennen. Es ist klar, dass ich in einen Raum groesserer Freiheit und Verantwortung gelange, wenn ich diese "goettlichen" Energien in ihrer dunkeln und lichten Erscheinungsform als in mir wirkende Kraefte verstehen und ihnen bewusst begegnen kann.

Heute frueh bei einem Spaziergang in einer riesigen Kaffe- und Gewuerzeplantage in den Western Ghats, wo wir inzwischen angekommen sind, wurde mir eine weitere Dimension des gestrigen Rituals bewusst: Dieses loewenartige Machtbewusstsein und seine Tendenz zum Machtmissbrauch, sobald sein Selbstverstaendnis provoziert und in Frage gestellt wird, ist auch global wirksam. Wir sehen dieses Wirken hinter den zahlreichen Konflikten, welche die Welt bewegen. Es ist wohl auch eine kosmisch wirkende elementare Kraft.

Ist es denkbar, steigt jetzt in mir die Frage auf, dass solche Rituale, wenn sie im Bewusstsein ihrer ganzen Tiefe und Weite ausgefuehrt werden - vielleicht vernetzt mit andern, in einer "zeitfreien Gleichzeitigkeit"? - global oder gar kosmisch wirksam sind? Und: Gehoert es zu den naechsten Schritten der Evolution des kollektiven Bewusstseins der Menschheit, dass wir dafuer optimale Formen und Vernetzungen finden? Um die Kraefte blinden Eigennutzes und der Verteidigung alter Machtpositionen global zu beruhigen?