13. Januar 2008

> Multidimensionale Tempelrituale III (Fortsetzung)

Die Erfahrung der abendlichen Rituale im Tempel von Vishnus Loewengestalt ist mir buchstaeblich durch Mark und Bein gegangen. Die Erfahrung ist jetzt – einige Tage danach – gegenwaertig. Die Erinnerung an das anhaltende Laeuten der hellen Tempelglocke, die Rezitation der Mantren, die streng ritualisierten Gesten des Brahmanen, dies alles, umgeben von den betoerendsten Raeucherdueften und getragen von der Hingabe einer dicht gedraengten Menge von Glaeubigen, wirkt noch immer wie ein Sog in ein anderes Koerper- und Gefuehlsbewusstsein. Es ist ein magischer, durch ein suggestives Gewebe von uralten Mythen erhoehter Zustand.

Wer in der integralen Bewusstseinsebene – im Sinne von Ken Wilbers innerer Landkarte – beheimatet ist, mag hier die Haltung des inneren Beobachters einnehmen, der den kontrollierenden, rationalen Geist zurueckzutreten und zu schweigen heisst, um die Lebendigkeit der magischen und mythischen Erfahrungsebenen ganz zuzulassen; sie sind Teil unserer Vergangenheit, sowohl des einzelnen Menschen wie auch der Menschheit. Der rationale Geist wird spaeter zum Zuge kommen, wenn es darum geht, den inneren Erfahrungen die ihnen angemessenen Worte zu verleihen.

In dieser Betrachtung seiner inneren Tiefe wird der sensible Beobachter auch die ihn umgebende Dimension der Ewigkeit wahrnehmen koennen: unbewegtes, unbegrenztes Sein, dessen Urgrund alle Manifestationen, der ganze Kosmos, entspringen. Sich diesem ewigen Sein so anzuvertrauen, dass sich unversehens die Trennung zwischen dem Beobachter und dem Urgrund aufloest: das ist die mystische Erfahrung der nondualen Einheit, jenseits aller Gegensaetze.

Ist es vermessen anzunehmen, dass wir uns aus dieser Warhnehmungsfaehigkeit und mit dem Respekt fuer die verschiedensten Formen von Glaeubigkeit auf die religioesen Rituale aller Kulturen einlassen, sie mitvollziehen und sie in einer sprachlosen Weise auch verstehen koennen? Im Sinne einer trans-religioesen, die verschiedenen Formen ueberschreitenden Weise, und ist dies nicht der Weg zum Frieden zwischen den Religionen und Kulturen? Ein Weg der Achtung fuer die Verschiedenheit der Wege und Formen, wie auch der verschiedenen Bewusstseinsebenen, aus denen sie erfahren werden, letztlich aber auf ihren gemeinsamen Urgrund im Absoluten ausgerichtet. Universelle Spiritualitaet.

Heute frueh habe ich auf meiner Wanderung eine das Umland weit ueberragende Huegelspitze bestiegen. Der Lohn des anstrengenden, Haende wie Fuesse beschaeftigenden Aufstiegs war eine Rundumsicht ueber eine gruene Welt von weichen Taelern und Huegel, da und dort durch ein schwarzes Felsmassiv akzentuiert. Gruener Dschungel, auf allen Seiten, soweit das Auge reicht; in der Ferne da und dort eine Gruppe von Haeusern und Huetten, eine Ansammlung kultivierter Felder, durch erdige Landwege verbunden. Voegel singen, in der Ferne hie und da bellende Hunde, ein bloekendes Rind, Rufe von Menschen – alles eingetaucht in ein waermendes Sonnenlicht; kurz: Indien wie im Bilderbuch.

Ob diesem Frieden lacht mir das Herz, dessen Waerme ich schon beim Fruehstueck gespuert habe, als ich einem anderen Gast von meiner beglueckenden Arbeit erzaehlte; und ich weiss, dass diese Herzenswaerme meiner innersten Quelle entspringt. Nun ist es, wie wenn die ganze Welt um mich, auch von dieser Herzenswaerme erfuellt waere: wo ich hinschaue, schwingt es mir so entgegen. Das ist die Basis eines imaginaeren Dreiecks: die Resonanz des Einen in meinem Herzen am einen, die Resonanz des Einen in der Umwelt am anderen Ende. Und darueber die Spitze: der eine, ungeteilte Urgrund. Und wieder saugt mich die Erfahrung unwiderstehlich in sich hinein. Ich bin alle drei zugleich, kann vom einen ins andere wechseln oder ganz im Dreieck sein.

Dann mache ich mich auf den Abstieg von der Huegelspitze und setze mich etwas weiter unten nieder. Auf den bequemen Baenken unter schattigen Baeumen, ein Aussichtsplatz, der wohl vor vielen Jahren von entdeckungsfreudigen Englaendern angelegt wurde. Wie ich so vor dem alten Tisch sitze und auf die Tischflaeche sehe, tritt mir ein weiteres Dreieck vor Augen. Wieder die gleiche Horizontale: vom Herzen in mir zum Herzen in der Welt, doch diesmal ist seine Spitze nach unten gerichtet. Das Bild meine die Ausrichtung dieser inneren Verbundenheit auf den aktuellen Augenblick, auf das Denken und Handeln in der Gegenwart.

Schliesslich verschiebt sich das nach unten ausgerichtete Dreieck nach oben, so dass das Bild zweier ineinander verschraenkter Dreiecke entsteht: eines zeigt nach oben, das andere nach unten. In Indien ist das Bild als Shri Yantra bekannt; wir kennen es auch als Davidsstern. Es wird fuer mich von nun an eine neue, von eigener Erfahrung getrankte Bedeutung haben.