Eigenartig, war die Nacht, die zweite meines diesjährigen Rückzugs in Cortona. Ich hatte den Eindruck dauernd wach zu liegen, jedoch völlig ausserhalb eines Zeitempfindens. Weit, tief und warm fühlte sich das Herz an, ohne sich auf irgendeinen Gegenstand oder Inhalt zu fokussieren. Eine feine Vibration – als licht oder kühl würde ich sie bezeichnen – durchpulste den ganzen Körper mit Haut und Haar. Das Phänomen schien vom Energiezentrum an der Schädeldecke auszugehen, aber auch mit den Energiewirbeln hinter der Stirn und dem Herzen verbunden zu sein.
Am Abend hatte ich noch in Sri Aurobindos[1] „The Life Divine“[2] gelesen. Im Winter hatte ich es einem spontanen Impuls folgend bestellt; vor zwei Wochen bezog sich meine Freundin Annette Kaiser[3] im Austausch unserer Erfahrungen auf die drei Schlusskapitel des Buches, die ich unbedingt lesen sollte. Im letzten Augenblick packte ich den schweren mehr als tausendseitigen Band noch ein, da er genau in eine Lücke im Gepäck für Cortona passte. Beim Lesen waren mir Passagen, die ich vor einigen Jahren als unverständlich zurückgewiesen hatte, plötzlich klar: es gibt in der Bewusstseinsentfaltung eine Phase, da die vitale und emotionale Natur des Menschen dem schon immer vorhandenen geistigen Potenzial ein Signal der Wandlungsbereitschaft vermittelt; ein Zeichen für den Beginn einen Prozess, den Aurobindo als Integration der in uns wirkenden Tiefe der Evolution in ein umfassenderes, spirituelles Bewusstsein beschreibt. Dieser Impuls seitens der inneren Natur, ist nicht willentlich machbar, ein Produkt der Reifung.
Schön wär’s, denke ich mir und spiele während meines Morgengangs zur Bar der Banchellis in Cortona sowie auf dem Rückweg über den Hügel von Santa Margherita mit meinen körperlichen Empfindungen. Die Haltung des zulassenden Beobachters führt mich während des Gehens in eine neue Erfahrung der Gegenwärtigkeit: Die kühle wie lichte Vibration erfüllt den Körper ganz fein vom Scheitel bis zu den Fusssohlen, bis hinein in die Zehen. Ja, sie scheint an den Körpergrenzen nicht Halt zu machen, ich spüre sie auch in der Erde, auf der ich gehe; nur einen Hauch von Bewusstseinstellung braucht es, um über die Körperempfindung hinaus in die grosse Einheit zu gelangen. Es ist ganz anders, ganz neu, und doch nicht fremd. Ich weiss nichts, augenblicklich, ausser dass ich die Erfahrung nicht begrenzen will, indem ich mir davon ein Konzept mache.
[1] Indischer Weisheitslehrer und Philosoph; Schöpfer einer differenzierten Synthese östlichen westlichen Denkens.
[2] Sri Aurobindo: The Live Divine, Lotus Press, Twin Lakes, WI 53181, USA
[3] Spirituelle Lehrerin in der Tradition Irina Tweedies
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