Ich sitze im Zug nach Cortona. Die Fahrt wird lang sein. Eben haben wir Brig erreicht; dank dem Lötschberg-Basistunnel in nur 90 Minuten ab Fribourg. Um 15.30 werde ich gemäss Fahrplan in Cortona eintreffen und dort von Freunden abgeholt werden, in deren Haus ich die ersten 5 Tage verbringen darf. Anschliessende wechsle ich in ein kleines Haus in der Altstadt von Cortona, das ich für die verbleibende Zeit gemietet habe.
In der NZZ habe ich soeben einen Artikel des australischen Ethikers Peter Singer gelesen: „Wer sich moralischer Verpflichtungen entzieht, wird unglücklich“. Singer verwendet dabei den Ausdruck „Moral“ nicht im Sinne auferlegter Konventionen; er meint damit eher eine Art von unspektakulärer, auf die Bedürfnisse der augenblicklichen Situation ausgerichteter, ethischer Vernunft; ich würde sie als „Logik des Herzens“ bezeichnen.
Folgendes von ihm angeführte Gedankenexperiment, mit dem er seine Vorträge über Weltarmut und Ethik einzuleiten pflegt, ist dafür beispielgebend: „Ich bitte meine Zuhörer, sich vorzustellen, dass sie an einem Teich vorbeikommen, in dem ein Kind ertrinkt. Es ist niemand anders da, der helfen könnte. Durch die Rettungsaktion würde man allerdings seine feine Kleidung ruinieren. Fast alle sind überzeugt, dass man unter solchen Umständen eine Pflicht hat – lieber würde ich sagen, dass man dem inneren Ruf folgt – das Kind zu retten, auch wenn man dabei seine teuren Schuhe ruinieren muss. Und nun frage ich, wie sich diese Situation von der unterscheidet, in der wir uns gegenüber den ärmsten Bewohnern dieser Erde befinden. Würden wir auf ein paar teure Konsumgüter verzichten und den entsprechenden Geldbetrag stattdessen spenden, so könnten wir damit das Leben vieler Menschen retten. Viele Leute weitern sich aber zuzugeben, dass sie gegenüber den Ärmsten der Welt Pflichten haben, die vergleichbar sind mit der Pflicht gegenüber jenem ertrinkenden Kind im Teich. Aus ethischer Sicht sehe ich jedoch keinen Unterschied.“
Die mehrfache Verwendung des Wortes „Pflicht“ hat mich zuerst irritiert, weil ich damit rasch an durch Konventionen auferlegtes Verhalten denke. Auch wenn ich dieses gegenüber der Logik des Herzens als „minderwertig“ empfinde, muss ich gestehen, dass der falsch verstandene Individualismus Vieler dafür spricht, eine (noch) nicht vorhandene natürliche Rücksichtnahme durch moralische Regeln gemeinschaftsdienlichen Verhaltens zu sichern. Auch die Option des Geldspendens muss sorgfältig bedacht sein; nicht immer ist finanzielle Hilfe der beste Weg zu einer nachhaltigen Befreiung Notleidender aus ihrem Leid.
Was der Vergleich für mich zeigt, ist der Zusammenhang von Bewusstseinsentfaltung und empfundener Weite des Mitgefühls. Wenn die Bereitschaft mitzufühlen sich im Bewusstsein der Sippen- und Stämme auf den Kreis der Nächsten beschränkte und im Kampf um Lebensraum bereits der Nachbar als möglicherweise zu bekämpfender Fremder gesehen wurde, so dehnte sich die Weite des Mitgefühls im Verlauf der Geschichte über die Allernächsten hinaus, Ethnien und Nationen einschliessend. Allerdings steckt die Mehrheit der Menschen auch heute noch in grösseren und kleineren Konflikten um ethnische oder nationale Abgrenzung fest. Die als natürlich empfundenen Grenzen vom Eigenen zum Fremden sind nach wie vor eng; erst ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit ist dazu fähig – geschweige denn bereit - globale Zusammenhänge aus einem umfassenden Mitgefühl wahrzunehmen und dementsprechend aus einer natürlichen Logik des Herzens zu handeln. Singers Vergleich spricht dafür eine deutliche Sprache.
Der Weg zur globalen Mitverantwortung wird lang sein, und - wie ich fürchte - auch konfliktreich; ich vermag mit bestem Willen nicht einmal eine signifikante Minderheit global Empfindender und Handelnder auszumachen. Die nächste Zukunft braucht vor allem Leader – auch im Bereich der Politik und der Medien – welche die Position globalen Wohlergehens wahr- und einzunehmen vermögen; die fähig und willens sind, ihre Einsicht in die Notwendigkeit globaler Rahmendbedingungen einer blinden und schweigenden Mehrheit glaubhaft zu machen; Rahmenbedingungen, welche mit Sicherheit die Souveränität der Nationalstaaten beschneiden und dabei auch den Lebensstil der Einzelnen begrenzen werden.
Globalisierung des Bewusstseins meint mehr als die unendliche Geschichte der frühen Eroberungszüge, des Kolonialismus, der globalisierten Wirtschaft: Es geht um angewandte Herzenslogik aus einer den ganzen Globus umfassenden Sicht. Auch – oder vielleicht: ausgerechnet - die „schädlichen“ Entwicklungen können uns zu einem Sprung in ein neues Bewusstsein führen: Das Wohlergehen der Einzelnen ist vom Wohlergehen der ganzen Menschheit und ihrer Lebenssphäre abhängig. Kollaps – in welcher Form auch immer: Klima, Wasser, Krieg, Terrorismus, Finanzen – heisst die andere Option. Für den Fall ihres Eintritts dürfen wir uns immerhin damit trösten, dass die Natur auf das Verschwinden der Menschheit mit einem grossen Aufblühen reagieren würde.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen