Am vergangenen Samstagvormittag stand für mich noch ein Kurzvortrag auf dem Programm; als letzte Verpflichtung vor der Abreise in meinen Rückzug nach Cortona, wo ich inzwischen glücklich angekommen bin. Es galt, die neue Reihe der „Berner Kulturgespräche“ zu eröffnen; mit einem Dialog zum Thema „Wirtschaft zum Wohl der Weltgemeinschaft“, den mein Freund Toni Gunzinger, Unternehmer und ETH-Professor, und ich mit je einem inhaltlichen Impuls einleiteten.
Seit einiger Zeit wage ich es immer konsequenter, bei meinen Vorträgen auf ein Manuskript zu verzichten und auch die Stichworte zum Ablauf möglichst knapp zu halten. Je weiter ich zudem diese minimale Vorbereitung zeitlich hinausschiebe, umso mehr zwinge ich mich in eine Hingabe an den Augenblick und die Öffnung für Impulse zu jenen Aspekten, die der jeweiligen Zuhörerschaft am besten dienen. Diese Offenheit setzt eine ständige Bereitschaft zum Loslassen von Konzepten zugunsten des Unerwarteten voraus; das Vertrauen in diese Quelle der Intuition wächst in dem Masse, wie wir nicht nur achtsam hören, sondern ihre Impulse ernst nehmen und ihnen folgen.
Dem vergangenen Samstag verdanke ich eine derartige Erfahrung: Während meiner Yoga-Übungen am frühen Morgen fiel mir das Bild jener Flut von Autos ein, die vor zwei Tagen den grossen Parkplatz unseres Dorfes gegenüber der Kirche sowie die angrenzenden Nebenstrassen überschwemmt hatte. Eine ältere Einwohnerin des Nachbardorfs, das mit dem unsrigen die Kirche teilt, sei gestorben, hatte ich auf meine Nachfrage hin erfahren.
Diese breite Anteilnahme am Tod einer Mitbürgerin schien mich auf einer tieferen Ebene anzusprechen. Ich sah vor mir, wie – wohl noch bis ins letzte Jahrhundert hinein – eine Dorfgemeinschaft den ganzen Fluss von Werden und Sterben mit religiösen Feiern, Festen und Ritualen umgab. Nicht nur die persönlichen und familiären Angelegenheiten, auch die profanen Aspekte des Gemeindelebens, des bäuerlichen wie des gewerblichen Alltags waren in dieser Glaubensgemeinschaft aufgehoben; was immer geschah, ereignete sich im Rahmen der Kirchgemeinde. Darüber wachte ein Gott, dessen Wohlgefallen es zu erwerben galt, durch die Fürsprache des Sohnes, des heiligen Geistes und der Heiligen; den gottverlassenen Sündern warteten Fegefeuer und Hölle.
Dass diese Art von Aufgehobenheit im Gefolge der Aufklärung und später der 68er Jahre zerfiel und weiter zerfällt war und ist die natürliche Begleiterscheinung der evolutiven Entfaltung des menschlichen Bewusstseins. Von der westlichen Welt ausgehend, erfasst diese Entwicklung nach und nach immer weitere Völker und spirituelle Traditionen; dies nicht zuletzt, weil sich die kirchlichen und spirituellen Institutionen noch immer dem Wandel widersetzen, sich eher in beliebiger Anbiederung übend, als den Menschen, die daran waren und es noch sind, ihre individuelle Denkfähigkeit zu entdecken, ein umfassenderes Verständnis von Religiosität anzubieten.
Als Folge dieses Verlustes der Aufgehobenheit im Mythos erleben wir heute eine Welt, die vom Streben nach Sicherheit und Aufgehobenheit in äusseren Dingen gekennzeichnet ist; im dramatischsten Sinne des Wortes, wenn wir die Kollateralschäden wahrnehmen, die das unersättliche Erfolgsstreben anrichtet: im Bereich der Biosphäre, wie auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft.
Wie wunderbar würde sich diese, dem eigenen Erleben entsprungene Sicht als Einleitung in den heutigen Kurzvortrag eignen; als ein Plädoyer für eine globale, die einzelnen Religionen und spirituellen Traditionen zugleich übersteigende und umfassende Spiritualität! Eine Spiritualität jenseits der von Mythen geprägten Gottesbilder, lebend aus der Hingabe an die wort- und bildfreie eine Weisheit und Liebe! Als Basis einer gemeinschaftsdienlichen Wirtschaft.
Doch damit nicht genug: Wenige Minuten vor Beginn der Veranstaltung meinte ein befreundeter protestantischer Theologe, mit dem ich eben „meine“ neuen Einsichten teilte, dass der Bildersturm der Reformation genau diesen Verzicht auf die Verankerung des Glaubens an äusseren Bildern gewollt hätte; entsprechend dem zweiten Gebot: „Du sollst Dir kein Bildnis machen“. Ich war perplex; denn ich hatte wohl um die historischen Vorgänge gewusst, sie jedoch nie in diesen tieferen Zusammenhang gestellt. Es ist klar: Unser wirkliches Verständnis vermag nicht über die Weite unseres Bewusstseins hinauszureichen; Weite und Tiefe bedingen sich gegenseitig.
Der inspirierte Vortrag berührte die Zuhörer. Mein Gewinn war ein tieferes Verständnis für das Wesen der Evolution: Ein stetes Spiel, vom Finden neuer Denkweisen, die sich mit ihrer Bewährung in Konzepten verhärten, im Sog nach umfassenderer Erkenntnis wieder brüchig werden und schliesslich zerfallen, nur um wieder Raum für umfassenderes Verstehen zu schaffen. Dass es dazu, wie im Falle der Reformation, die wir im Fluss der Geschichte auch als Vorbereitung der Aufklärung sehen können, in deren späterer Ausdruck von Gleichheit und Brüderlichkeit ein rigider Kommunismus aufkeimte und wieder verging, oft mehrer Anläufe bedarf, gehört zum Spiel. Durch das unablässige Tasten der Evolution in neue Räume und die damit verbundenen Erfahrungen verändert sich die Gestalt des ursprünglichen Impulses, bis seine Form einer Mehrheit der betroffenen Menschen als glaubwürdig einleuchtet und durch die übereinstimmende Akzeptanz eine – zeitlich begrenzte - Stabilität erhält.
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