6. November 2008

Verunsicherung: Erinnerung an das Wesentliche!

Mehr als ein Monat ist seit meinem letzten Eintrag vergangen. Dabei war die Zeit keineswegs ereignislos: im Gegenteil. Trotz vielen Inspirationen - oder vielleicht gerade deshalb - habe ich für meine Tagesnotizen (zu) wenig Zeit gefunden. So packe ich es denn wieder an, mit einer kleinen, aber vielleicht doch wichtigen Einsicht.

Ende Oktober kamen zwei Kongresse in Garmisch-Partenkirchen und in München zusammen. Am einen Tag stand ein Vortrag und ein Workshop-Nachmittag am ZIST-Kongress auf dem Programm. Am nächsten Vormittag reiste ich weiter nach München, für einen Vortrag am CITTA-Kongress am Nachmittag.

Ich hatte mich innerlich wohl auf die Vorträge vorbereitet und die Abläufe auch gedanklich strukturiert. Obwohl ich die dafür notwendige Zeit frei gehalten hatte, mochte ich mich jedoch durchaus nicht dazu überwinden, irgendwelche Sätze zu formulieren und aufzuschreiben. Eine "pflichtbewusste" Stimme in mir empfand dies als absolut fahrlässig und schaffte es auch, mich immer wieder zu verunsichern. Wenn immer ich mich dann niedersetzen wollte, sagte ein anderer innerer Mitspieler, dass ich besser daran täte, zu den Hörern mit ihren augenblicklichen Bedürfnissen zu sprechen und dazu auf die Inspiration aus der Gegenwärtigkeit zu vertrauen.

Als ich in Garmisch zum Rederpodium schritt, legte ich meine Stichworte aufs Rednerpult. merkte aber bald, dass mich der Blick auf die Notiz von dem ablenkte, was jetzt gesagt sein sollte. So liess ich es geschehen, sprach während rund einer Stunde aus dem Herzen und spürte wie es im Saal immer stiller wurde. Dass ich das Publikum dabei nicht eingeschläfert hatte, merkte ich an der "Standing Ovation" am Schluss: die Zuhörerschaft war sichtlich berührt.

Der nachmittägliche Workshop, den ich mit Ausnahme der Eröffnung in keiner Weise vorbereitet hatte, verlief auf ebenso glückliche Weise, nicht anders auch der Vortrag in München am nächsten Tag.

Eine Kraft, die über mein Wollen hinausgeht, scheint mich getragen zu haben. Nicht nur, dass sich in einem ruhigen Fluss die richtigen Gedanken und Worte einstellten; vielleicht waren die Worte sogar weniger wichtig, als die Herzenergie, der sie gewissermassen aufmoduliert waren. Ich weiss es nicht.

Was ich aber ganz sicher weiss: Die Stimme der Verunsicherung ist derzeit für mich ganz wesentlich. Sie veranlasst mich, im entscheidenden Augenblick zur Hingabe an das Grössere in mir, das mich dann so erfüllt, dass es mit den Hörern geteilt sein will. Ohne diese Verunsicherung würde wohl mein ICH die Sache übernehmen und mich von der Quelle wegführen. Es ist durchaus möglich, dass sich dies noch ändern wird. Dann vielleicht, wenn ich nie mehr vergesse, dass ich Ausdruck des Einen in einer menschlichen Gestalt bin und auf meine Weise zur Entfaltung des Bewusstseins in dieser Welt beitrage.

2. Oktober 2008

Unernehmensziel: Dienst an der Gesellschaft

Liebe N.S.

Auf Ihre nachstehenden Fragen antworte ich gerne im Rahmen der "Tagesnotizen", da unser Austausch vielleicht auch andere Leser interessiert:

Wir behandeln in BWL die Ziele der Unternehmen. Ihre These dazu finde ich hochinteressant, nach welcher bei der Zielsetzung der Dienst an der Gesellschaft an erster Stelle stehen soll – und nicht die maximale Gewinnerzielung. Wenn das Wohl und der Dienst an der Gesellschaft im Mittelpunkt des Handelns stehen, sei Gewinnerzielung eine natürliche Begleiterscheinung.

Im Artikel wird erklärt, dass die heutige Wirtschaft immer aus einem Gefühl des Mangels oder aus einer Angst heraus funktioniere. Die Probleme würden meistens nur auf der Geldebene betrachtet und nicht auf der Sinnebene. Dort liege die Existenzberechtigung einer Firma.

Meine Fragen:
Sind Sie also der Auffassung, dass eine Firma nur dann existenzberechtigt ist, wenn deren Bestehen für die Gesellschaft einen Sinn ergibt? Ist dies nicht eine subjektive Frage, ob etwas sinnvoll ist? Können Sie mir ein Beispiel für eine nicht „existenzberechtigte“ Firma nennen?

Als Beispiel für diese These, sogar als „Paradebeispiel“, nennen Sie die Swiss. Ich habe allerdings Mühe, die Swiss damit in Verbindung zu sehen (meinen Sie damit die Swissair)?
Was hat die Firma Ihrer Meinung nach falsch gemacht?

Unternehmerische Begeisterung und Kompetenz machen die Einzigartigkeit eines Unernehmens aus. Dort, wo sich diese Einzigartigkeit mit dem Dienst an der Gesellschaft trifft, entsteht Sinn, wie ich ihn verstehe. Bewusst gelebter Unternehmenssinn zieht Menschen - Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Partner - an, die mit dem Unternehmen in Resonanz stehen. Deshalb verstehe ich einen über den Dienst am Kunden hinausreichenden Unternehmenssinn als Existenzgrundlage - spitzer gesagt: Existenzberechtigung.

Nach dem Zusammenbruch der Swissair ging es Wirtschaft und Politik unbedingt darum, eine Schweizerische Fluggesellschaft zu erhalten: Die Swiss wurde unter Einsatz von einigen hundert Millionen gegründet. Da die Sinnfrage nicht über diesen nebulösen Wunsch hinaus geklärt war, entwarf ein trendiger Designer das Bild einer exklusiven High-Quality-Airline, während sich gleichzeitig das Management bemühte, die Auslastung mit Billigangeboten zu erhöhen und wo immer möglich Kosten zu sparen. Die unterschiedliche Unternehmenskultur der verschmolzenen Ursprungsfirmen - Crossair und Swissair - sorgte für ständige, dem Qualitätsimage abträgliche Konflikte. Das Experiment einer selbständigen Swiss scheiterte, wohl weil die einfache Frage "Wozu braucht es uns?" nie hinreichend geklärt worden war. Übrigens: Am Beispiel der Billigfliegerei lässt sich auch zeigen, dass - bei Einbezug der ökologischen Perspektive - der Dienst am Kunden nicht unbedingt auch für die Gesellschaft zuträglich ist. Hier stellt sich die Frage nach der Existenzberechtigung dieses ganzen Geschäftsmodells.

Die Frage "Wofür steht unser Unternehmen?" stellte auch eine Bekannte, als sie in den späten neunziger Jahren in verantwortlicher Stellung in den Bereich Human Ressources einer Schweizer Grossbank eintrat. "Schtütz mache, dänk, oder?" war tatsächlich die Antwort, die sie von ihrem Vorgesetzten erhielt. Heute, nach dem Finanzkrach, ist in den Zeitungen zu lesen, dass ein Kippen des US Finanzsytems auch für unser Land katastrophal wäre, weil die Banken ihrer Aufgabe, die Wirtschaft - insbesondere im Investitions- und Baubereich - mit Liquidität zu versorgen, nicht mehr nachkommen könnten. Frage: Was haben Unternehmensziele wie Milliardengewinne oder der Aufstieg in der Rangliste der Grössten oder die Steigerung der Eigenkapitalrendite auf 25% und mehr mit einem auf das gesellschaftliche Wohl ausgerichteten Unternehmenssinn zu tun? Wie lange wird unsere Gesellschaft noch jene bewundern, die so viel wie möglich nehmen und möglichst wenig geben?

26. September 2008

Sanft heilen

Die lange Pause in meinen Notizen ist nicht ferienbedingt. Im Gegenteil: die vergangenen sechs Wochen waren intensiv ausgefüllt mit Konzerten in unserem Haus, dem Symposium "Bewusstseinsevolution wohin?", der Vorbereitung von Vorträgen und vielem Anderen.

Heute Nacht hatte ich eine Erfahrung, die ich gerne teile: Zurzeit sorgt eine Gürtelrose dafür, dass ich nicht ungestört schlafe. So machte ich mich daran, den schmerzenden Ischiasnerv im rechten Bein mit einer beherzten Energie von Liebe und Fülle einzuhüllen. Offensichtlich war das zu gut gemeint: Der Schmerz intensivierte sich, fast ins Unerträgliche. So versuchte ich einen sanfteren Ansatz: Ich erlaubte dem Nerv zu schmerzen, verbunden mit dem Gedanken, dass die Zellen meines Körpers wissen, was dieser zur Heilung braucht. Das fühlte sich schon besser an: Der Ischiasnerv vibrierte leicht, ohne mehr zu schmerzen als zuvor. Dann kam die Überraschung: Meine Schädeldecke begann aus sich heraus ganz kühl zu schwingen. Spontan gab ich meine eigenen Bemühungen auf und übergab das ganze Geschehen der inneren Weisheit, die hier offensichtlich am Werk war. Eine weiche, kühle Energie begann ganz sanft im lädierten Nerv zu pulsieren.

Nichts Anderes, als ich schon lange wusste: Nicht die Intensität meines Willens zu heilen - und sei es auch aus der liebenden Fülle des Herzens - ist entscheidend. Es reicht, den gegenwärtigen Zustand anzunehmen, wie er eben ist, und der Weisheit des Körpers sowie der inneren Heilungskräfte zu vertrauen.

Dankbar stelle ich fest: Heute ist der Nervenschmerz unvergleichlich viel besser zu ertragen als gestern!

7. August 2008

Evolution als Spiel kreativer Impulse mit morphischen Feldern

25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat Rupert Sheldrake sein Buch über die Theorie der morphogenetischen Felder und der morphischen Resonanz "Das schöpferische Universum" neu überarbeitet und erweitert.

Morphische Felder wirken nach Sheldrake gestaltend auf die Potenziale der Quanten ein, aus denen durch stete Wiederholung der Information Wahrscheinlichkeiten und schliesslich Manifestationen werden; dementsprechend spricht er von kosmischen Gewohnheiten, die das materielle Universum in der für uns wahrnehmbaren Form konstellieren, aber in Feldern kleinerer Ausdehnung auch kollektive und individuelle Verhaltens- und Denkmuster formen.

Unter dem Blickwinkel der Evolution - der Materie, der Lebensformen, des Bewusstseins - beruhen morphische Felder auf steter Wiederholung und beinhalten keinerlei eigene Dynamik zur Veränderung. Sheldrake sieht die Existenz morphischer Felder als naturwissenschaftlich erklärbare Phänomene, im Gegensatz zum kreativen Impuls, der allein Transzendenz - die evolutionäre Bewegung - bewirken kann: Die Kreativität, die in verschiedenster Weise auf die an sich trägen morphischen Felder einwirkt (und dabei neue Potenziale zur Manifestation bringt) ist in keiner Weise erklärbar; ein Wunder, dessen Spuren wir wohl im Feuern der Neuronen, in unseren Einfällen und in der Art, wie wir sie in die Welt bringen, ablesen können, dessen Ursprung aber ein Mysterium bleibt. (Es sei denn, wir schreiben die Kreativität, wie sie sich allen Wundern dieser Welt ausdrückt dem blinden Zufall zu.)

Heute, im Gespräch mit Christoph Quarch - Freund und Gefährte im neuen transreligiösen Projekt der E.&H.-Kulturstiftung - kamen wir auf die vielen spirituellen und ökologischen Initiativen, von denen sich so viele wie Spuren im Sand verlieren: Klar, fuhr es mir durch den Kopf, wir alle, die solche Projekte in Gang bringen, wirken mit unseren kreativen Impulsen auf die Beharrlichkeit des Bestehenden ein - und wir wissen nie im voraus, was genau und in welchem Augenblick den kritischen Punkt treffen wird, der den Übergang des Feldes in einen neuen Zustand auslöst.

Der Gedanke hat uns beide als Aha-Erlebnis berührt: Er ermutigt uns, frei den Impulsen zu folgen, die wir auch nach mehrmaligem Nachspüren und Austauschen mit andern als wesentlich empfinden; gleichzeitig nimmt er aber auch jeglichen Erfolgsdruck weg, denn wir wissen letztlich nie im voraus, was und wie "Erfolg" ist und was ihn auf welche Weise bewirkt. Wir sind als ICH auch nicht die kreative Kraft, welche die Impulse schafft, sondern bestenfalls die feingestimmten Instrumente, die vernehmen und dann kraftvoll umsetzen; unablässig und immer neu. - Was für ein Glück!

5. August 2008

Projekt "Declaration of Global Spirituality"

In diesen Tagen hat ein Projekt sich weiter konkretisiert, das mir ganz besonders am Herzen liegt. Es geht um die Frage, wie eine trans-religiöse Spiritualität in Worte zu fassen sei, damit sich die verschiedenen Religionen, die doch alle das unteilbare Eine meinen, darin in ihrer Essenz wiedererkennen können; ein Rahmen, frei von Dogmen und dem kritischen Verstand fremden Glaubenssätzen, in dem sich auch Viele, die den Kirchen und anderen spirituellen Institutionen den Rücken gekehrt haben, wieder finden sollen.

In den ersten Dezembertagen dieses Jahres wird sich auf Einladung der E.&H.-Kulturstiftung Zürich ein Team von sieben offenen Geistern, unterschiedlichster spiritueller Herkunft, treffen, um die erste Skizze einer "Declaration of Global Spirituality" zu verfassen. Diese Skizze soll anschliessend während fast eines Jahres auf der interaktiven Website der Coalition for the Global Commons* sowohl der breiten Öffentlichkeit als einem grossen Kreis von Experten "ausgesetzt" sein. Unser Team wird die Anregungen laufend verfolgen und in eine verfeinerte Formulierung mit einbeziehen. Wir hoffen, dass es uns gelingt, das Ergebnis in der dann vorliegenden Fassung dem Kongress des Parlaments der Weltreligionen vorzustellen, der im Dezember 2009 in Australien stattfinden wird.

Mehr darüber: www.eh-kultur.ch/idee_spirituality.htm

* die Coalition for the Global Commons ist ein Projekt der Global Marshall Plan Foundation

29. Juli 2008

Involution - Ein Versuch

Im Zusammenhang mit persönlicher und kollektiver Entfaltung sind wir gewohnt, unser Augenmerk auf den evolutionären Aspekt zu richten. Damit sich aus dem BigBang ein Kosmos entfalten konnte, damit sich aus Same und Ei ein Mensch entfalten kann, damit sich aus dem immer neuen Augenblick das Jetzt entfaltet, muss ein Akt der Involution vorausgegangen sein und sich laufend wiederholen. Eine Involution unvorstellbar hoch konzentrierter Energie und auch von Information: von unendlichen Potenzialen die sich weiterhin zu Wahrscheinlichkeiten und Manifestationen entfalten, die durch stete Wiederholung zu "kosmischen Gewohnheiten", zu soliden Manifestationen unterschiedlicher Lebensdauer werden. (Vielleicht stehen jetzt meinem lieben Freund und Physiker George Weismann ob der laienhaften Schilderung die Haare zu Berge?)

Auf der Website des Integral Spiritual Center vermittelt Ken Wilber in einer Audio-Datei ein leicht verständliches Bild, wie sich der einzelne Mensch und der immer neue Augenblick durch die immer gleichbleibenden Stadien entfaltet, wie sie der Evolution der Schöpfung entsprechen:

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Körperbewusstsein:
Identität mit Körper und Lebensimpulsen
________________________________________
Seelenbewusstsein:
Eingebundensein in Gefühle und Gedanken
________________________________________
Zeugenbewusstsein (entspricht BigMind):
Wahrnehmung des ständig neuen Ursprungs aller Phänomene -
Materie, Gefühle, Gedanken - aus dem Einen:
Freiheit von den Manifestationen
________________________________________
Einheitsbewusstsein (Nonduales B.):
Zeuge und Wahrgenommenes verschmelzen im Einen
________________________________________
Die Involution beinhaltet die Essenz aller vier Ebenen - und vielleicht noch unendlicher, übersteigender, für das menschliche Bewusstsein noch nicht erfahrbarer Ebenen - die sich in der Evolution von Augenblick zu Augenblick neu entfalten. Dabei ist - wie eben gesagt - die Erfahrung der Wahrnehmenden durch den Grad ihrer Bewusstseinsentfaltung geprägt bzw. begrenzt.

Versuchen wir einmal, uns für dieses ständige Spiel von Involution und Evolution in uns zu öffnen: als energetische Erfahrung, für jene, denen dies leicht fällt, oder als (nahezu) gleichzeitige Wahrnehmung der vier uns zugänglichen Ebenen: Körper - Seele - Zeuge - Einheit.

Diese (nahezu) gleichzeitige Gegenwärtigkeit auf allen Ebenen vermittelt einen Zugang zum Leben im Augenblick von ganz besonderer Qualität. Bereitschaft zum Mitgestalten der Gegenwart aus einer breiten Schau auf die Zusammenhänge und die Erfordernisse des Augenblicks: durchaus nicht absichtslos, doch frei von der Bindung an ein Ergebnis, das als solches von relativer Bedeutung ist. (Ergänzungen und Konkretisierungen sind willkommen!).

Das ist wohl, was wir uns unter einem postmodernen Bodhisattva vorstellen können?

22. Juli 2008

Schneller und tiefer Wandel

Immer wieder überrascht mich in letzter Zeit die zunehmende Schnelligkeit und Tiefe von Wandlungsprozessen in der Bewusstseinsarbeit. Es scheint mir - nicht zum ersten Mal - wie wenn die Vorarbeit vieler Anderer, die den Weg gegangen sind, das kollektive Bewusstsein so konditioniert hätte, dass die Nachfolgenden in den geprägten Spuren gleiten könnten? Klar, dass solche "Diagnosen" letztlich nicht mehr als Vermutungen sind; doch, wenn wir uns - im Sinne eines laienhaften Verständnisses der Quantenphysik - als Differenzierungen eines umfassenden Feldes von Potenzialen, Wahrscheinlichkeiten und Phänomenen sehen, die sich beständig neu manifestieren, klingt dies gar nicht so unwahrscheinlich?

Was diese Gedanken eben gerade auslöste: der nachstehende Erfahrungsbericht; verfasst sieben Wochen nach Abschluss eines viertägigen Einzelretreats.

Rück- und Ausblick nach dem Bewusstseins-Entfaltungs-Prozess
vom 26. bis 29. Mai 2008


Fragen von Hans und Antworten von XX

Wie hat sich Dein Verständnis Deines Daseins und Deiner Beziehung zur Umwelt verändert?:
Das Verständnis meines Daseins hat sich nach dem Retreat mit Dir und den nachfolgenden
sieben Wochen „Auszeit vom Geschäft“ insofern verändert, dass es mir mehr und mehr
gelingt, zu mir selbst zu kommen, meinen Verstand in meinen Meditationen phasenweise
auszuschalten und in meinem eigentlichen Sein oder eben Nicht-Sein zu weilen. Dieser
Zustand lässt sich nicht beschreiben, ich empfinde ihn als wunderbar, es gibt in ihm keine
Fragen und Antworten mehr – sie haben sich aufgelöst …
Eingebettet in dieses EINE, oben eben erwähnte „Sein oder Nicht-Sein“ empfinde ich mich in
der Beziehung zur Umwelt so nicht mehr als von ihr getrennt, sondern einfach als Teil des
Ganzen. Ausserhalb der Meditation gibt mir meine Erfahrung die Gewissheit, dass dies
tatsächlich so ist, obwohl mich die Dualität unseres Verstandes natürlich immer wieder
täuscht und die Umwelt, als etwas „ausserhalb von mir“ betrachtet.

Welche Erkenntnisse in Bezug auf Deine bis anhin dringlichsten Fragen ergeben sich
daraus?:
Wir Menschen sind EINS mit dem ganzen Universum, unsere Getrenntheit ist eine Illusion
unseres Verstandes, welcher nur in der Dualität existiert und dauernd in Objekte und Subjekt
unterteilt. Einssein mit dem Universum bedeutet auch, innerhalb der eigenen Möglichkeiten,
unsere universelle Verantwortung zu übernehmen.
Auf welche Erfahrungen tieferen Seins, wir können es auch Segen oder Gnade nennen, wirst
Du Dich auch in Zukunft beziehen wollen?:
Ich möchte resp. muss mich künftig auf die erwähnte „Sein oder Nicht-Sein“ Erfahrung
beziehen. Für mich ist sie die höchste Bewusstseinsstufe, welche ich bisher erfahren durfte.

Wie sehen Deine neuen Prioritäten und Ausrichtungen aus?
Ehrliche Einfachheit und Klarheit. Damit meine ich, dass ich in meinem Umfeld versuche, all
die Tricks welcher unser Verstand immer wieder anwendet, um unsere Egos zu pflegen, resp.
unser Einssein mit der Schöpfung zu untergraben, aufzudecken. In den Beziehungen zu
meinen Mitmenschen heisst dies, dass ich versuche aus diesem neutralen Einssein heraus, zu
beobachten und sie zu verstehen und entsprechend verständnisvoll (zuzusagen wie in eigener
Sache) zu reagieren.

Mit einer kurzfristigen im Alltag zu vollziehenden und sichtbaren Massnahme wirst Du ein
Zeichen für Deine neue Ausrichtung setzten:
Siehe vorangehende Antwort.

21. Juli 2008

Gelesen: Hirnforschung und Meditation

Von zwei Büchern sprach ich in meiner gestrigen Tagesnotiz, um dann gleich auf das zweite der Beiden einzugehen. Das erste heisst "Hirnforschung und Mediation". Es ist ein Dialog zwischen Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher, und Matthieu Ricard, ursprünglich Molekularbiologe, der dann buddhistischer Mönch wurde. Für dieses Buch treten beide in einen Dialog über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Bewusstseinstraining. Sie sprechen darüber, welche mentalen Zustände mit meditativen Praktiken herbeigeführt werden sollen, welche neuronalen Vorgänge diesen zugrunde liegen, und sie fragen, ob regelmässiges Meditieren zu nachweisbaren Veränderungen von Hirnfunktionen führt.

Ich habe die Lektüre des kleinen Büchleins als wertvoll empfunden, weil ich aus einem anderen Aspekt heraus wieder die Bestätigung fand, wie sehr unser „automatisches“ Denken, Fühlen und Handel den Konditionierungen entspringt, die wir aufgrund unserer persönlichen Geschichte, wie auch als Ergebnis „unseres Zweigs der Bewusstseinsevolution“ in uns tragen. Auch die innere Haltung des Zeugen - für mich die erste Voraussetzung für eine mögliche Freiheit von diesen Prägungen - beruht auf der Konditionierung durch Wiederholung dieses Bewusstseinszustandes. Gleiches gilt für die innere Haltung der Empathie – diesmal für unsere eigene Bedingtheit – als Voraussetzung für die Transformation eben dieser, uns begrenzenden Konditionierungen. Das führt mich weiter zur Frage, wie denn überhaupt die Anteile von Konditionierung und wirklicher Freiheit bei der Wahl meines Weges verteilt seien: ist nicht weitgehend durch Umfeld und Geschichte vorgeprägt, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, diesen Weg zu wählen?

Vielleicht ist der Anteil wirklicher Freiheit an unserer eigenen Entfaltung tatsächlich kleiner als wir annehmen? Gleichzeitig wirken wir durch unser Sein aber auch prägend auf unser Umfeld. So bleibt auch im Rahmen einer bedingten Freiheit noch Raum, unsere Mitverantwortung für die Welt, wie wir sie eben jetzt erfahren, mitzugestalten. Und auch wenn dieser Gedanke bereits wieder Resultat von Konditionierung sein sollte, nehme ich die „Freiheit“ wahr, dies gerade jetzt aufzuschreiben und mit den Lesern dieser Notiz zu teilen: als mein Anteil an der Konditionierung des Kollektivs, dessen sich beständig erneuernder Zustand Resultat unserer aller Einwirkungen ist.

Hier noch ein kleiner Ausschnitt aus dem lesenswerten Buch:

WS (Wolf Singer) …. Genau das ist eines der Ziele …. die Fähigkeit zu stärken, unsere Emotionen im Zaum zu halten.

MR (Matthieu Ricard) Ja, aber erst musst du sie erkennen. Es ist sehr wichtig, die Gedankenkette genau in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie beginnt. Zuerst muss man sich darüber klar werden, welche Geisteszustände zu innerem Leid führen und welche zu Wohlbefinden. Außerdem muss man, wie vorhin erwähnt, feine Nuancen unterscheiden, etwa Nächstenliebe von sexuell motivierter Liebe oder zerstörerische Wut von berechtigter Empörung.

WS Und du gehst davon aus, dass Menschen mit grosser Meditationserfahrung besser als andere zwischen den verschiedenen Schattierungen von Liebe unterscheiden können, Leidenschaft, Verlangen, Besitzenwollen, Abhängigkeit und Altruismus.

MR Das gehört zum Training.

WS Wenn dies wirklich möglich ist, wäre es von grosser Bedeutung. Auch die Psychoanalyse nimmt für sich in Anspruch, einem erkennbar zu machen, dass das, was man mitunter für reine Liebe hält, Zuneigung und Leidenschaft, Folge eines grandiosen Missverständnisses sein kann, einer projektiven Sehnsucht, endlich Zugang zur Mutter zu finden, die das kleine Kind vernachlässigt hat, eine Sehnsucht, die natürlich mit völlig anderen emotionalen Konnotationen einhergeht als die reife Liebe.

Hirnforschung Meditation. Ein Dialog. Wolf Singer. Matthieu Ricard. Edition Unseld. Suhrkamp Verlag. 2008

20. Juli 2008

Spiritualität in einer aufgeklärten Welt

In den letzten Tagen habe ich zwei Bücher gelesen, die mich besonders berührt haben und die ich deshalb hier empfehle. „Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“ ist der Untertitel des zweiten: „Freud lesen in Goa“ von Sudhir Kakar, Psychoanalytiker und Schriftsteller in Goa, Indien.

Besonders interessiert haben mich die Kapitel „Empathie in der Psychoanalyse und in der spirituellen Heilung“ sowie „Religion und Psyche: Freud lesen in Goa“. Stellvertretend für den reichen Gehalt des schlanken Buches, hier ein Zitat aus dem Nachwort, was mir hoffentlich weder der Verlag noch der Autor verübeln wollen:

Um die Beziehung zwischen Geist und Psyche zusammenzufassen, muss ich nach einer Metapher greifen, die Körper, Geist und Psyche als zutiefst verwandte Einheiten versteht. Mit unscharfen, ineinander fließenden Grenzen. So stelle ich mir die Psyche als einen großen See vor. Die Wasser dieses Sees sind warm, aufgeheizt von den Energien der Sexualität, Aggression und vor allem vom Narzissmus, die von der ihn umgebenden Erde – dem Körper – in ihn hineinfließen und das Wasser in Unruhe halten. Kräuselnde Wellen können zu Wogen von beängstigender Größe werden. Am Grund des Sees fließt der kühle Strom des Geistes, seine Wasser werden genährt aus der unterirdischen Quelle der Verbindung – –der liebenden Verbindung – und sind aufgrund der unterschiedlichen Temperatur beider von den oberen Schichten getrennt. Spirituelle Adepten tauchen häufig und tief in diesen Strom ein, obwohl es vermutlich keinen unter ihnen gibt, der nicht auch in den flacheren Bereichen des Sees verweilt und die Freuden, Leiden und Umstände unserer gemeinsamen Menschlichkeit teilt.

Wir gewöhnlichen Sterblichen sind jedoch auch nicht ganz von diesem spirituellen Strom abgeschnitten. Aufgrund der Unruhe des Lebens drängt das kühle Wasser der unteren Schichten oft in einem kleinen Rinnsal, selten als Flut an die Oberfläche. Dies sind wahrnehmbare Augenblicke der Hochstimmung, die man in der Natur, in Begeisterung vor einem Kunstwerk oder in Momenten unaussprechlicher Vertrautheit erfährt, wenn zwei Körper sich nach der Liebe voneinander gelöst haben und Seite an Seite nebeneinander liegen, sich aber noch nicht wie zwei getrennte Wesen fühlen. Es gibt viele weitere solche Momente, kleinere Ereignisse, die sich unserer bewussten Wahrnehmung entziehen, da wir erwarten, dass das Spirituelle eher eine Ausnahme als die Regel im menschlichen Leben ist.

Noch nie habe ich mich einem „Freudianer“ so nahe gefühlt. Und ich freue mich auf den Kongress "Globalisierung und Identität" - Samstag 04. und Sonntag 05. Oktober in Berlin, wo wir jeweils am gleichen Tag unsere Vorträge und Workshops halten werden: "Globalisierung und Psyche" (Prof. Sudhir Kakar) und “Transreligiöse Spiritualität - Identitätsbildung jenseits religiöser Engführungen (Hans Jecklin).

Sudhir Kakar: Freud lesen in Goa. Verlag C.H. Beck. 2008

23. Juni 2008

Das Musikwunder von Venezuela geht in die Gefängnisse

Vor Freude liefen meine Augen über, heute früh, als ich in der „Herald Tribune“ über die neueste Erweiterung des Musikwunders von Venezuela las:

Die Jugendmusikbewegung in Venezuela, die zehntausende von Jugendlichen aus teils schwierigsten gesellschaftlichen Umständen zur Musik führt, wird auf Gefängnisse ausgedehnt. So will es ein Projekt, für das der Staat und die Interamerikanische Entwicklungsbank einen Startkredit von 3 Millionen US Dollar einsetzen. Hunderte von Gefangenen Venezolanerinnen, zusammen mit Frauen aus Kolumbien, Spanien, Malaysia und Holland – viele von ihnen verurteilt wegen Delikten im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, aber auch wegen Mord, Raub und Diebstahl – lernen Geige, Bratsche, Kontrabass und andere Instrumente spielen. Täglich proben sie im Rahmen von Orchestern und Chören, die von jungen Dirigenten aus der Jugendmusikbewegung geleitet werden. Beethovens Neunte wird anvisiert; gespielt und gesungen werden aber auch lokale Volkslieder. Das erste Orchesterkonzert fand im Mai 2008 im Teresa Carreno-Konzertsaal in Caracas statt.

„Dies ist unser Versuch, das Gefängnis-System zu humanisieren“ sagt eine der Initiantinnen „wir gehen von der einfachen Idee aus, dass Musik die Menschen in ein anderes Bewusstsein zu erheben vermag.“

Trans-religiöse Spiritualität - Versuch einer Skizze

Das Thema einer trans-religiösen oder globalen Spiritualität hat mich in diesen Tagen intensiv beschäftigt und wird auch weiterhin im Zentrum bleiben. Es geht mir darum Worte für eine Spiritualität zu finden, in der sich Angehörige aller Religionen und Traditionen wieder finden können - und auch jene, die den Institutionen den Rücken gekehrt haben. Aus der Perspektive des Absoluten sind die Wege, die zu seiner Erfahrung relativ, Zubringer zum unteilbaren Einen.

Den nachfolgenden Ansatz zu einer Formulierung verstehe ich als "work in progress", das der Verfeinerung bedarf. Wenn Sie dazu beitragen wollen, benützen Sie die Kommentarfunktion am Ende dieser Notiz.


Initiation

Die Erfahrung des Geschmacks der Einheit

  • Viele Wege führen dahin. Viele haben die Erfahrung auch schon gemacht, aber sie den äusseren Umständen zugeschrieben, statt sie als Eigenes anzunehmen.
  • Die Erfahrung bedarf der steten Vertiefung: durch die Wiederholung, aber auch durch Würdigung und Dankbarkeit
Die Wende: von aussen nach innen
  • Die stete Vertiefung der Einheitserfahrung führt letztlich zur Verlagerung des Ortes letzter Aufgehobenheit von aussen nach innen: von den äusseren Sicherheiten zu innerer Gewissheit. Dies ist eine erste, entscheidende Wende.


Drei Aspekte persönlicher Beziehung zum Einen

Die Aufgehobenheit im Einen

  • Aufgehobenheit in unbedingter Liebe – Gegenstand unserer alles Handeln durchziehenden Sehnsucht – und unendliche Weisheit

  • Entdeckung des Herzraums als Ort der sanften Transformation

  • Annehmen und Wandeln der Emanationen des Unbewussten im Herzraum

  • Daraus entsteht Freiheit von den Zwängen des Unbewussten.
    Freiheit als Geschenk des menschlichen Bewusstseins!

  • Es ist, wie wir noch sehen werden, eine „bedingte“ Freiheit


  • Das Eine in der äusseren Vielfalt

  • Wahr- und Annehmen der äusseren Welt und aller Andern als Ausdruck des Einen, in seiner inhärenten Vollkommenheit wie in seiner gegenwärtigen Bedingtheit. So wie ich mich selbst auch angenommen habe

  • Die eigene emotionale Resonanz auf äussere Reize als Belebung von Aspekten im eigenen Unbewussten annehmen, die verstanden und erlöst sein wollen

  • Das Eine in seinem Wirken sehen, als Gott im Werden, durch ständige Differenzierung, als Wesen der Evolution

  • Das So-Sein der Weltsituation annehmen

  • Akzeptieren der Gegenwart als einzigen Ansatz für unser Handeln


  • Hingabe an das Eine

  • Hingabe an das Wunder des Seins, dessen Ausdruck die Schöpfung ist, wie ich selbst

  • Dankbarkeit: Immer klarer zum Ausdruck des Seins zu werden

  • Das Eine als Du: Es antwortet naturgemäss nicht mit den Mitteln der dualen Welt; die Antwort ist Inspiration, wenn wir Fragen und Probleme im Herzraum direkt – losgelöst von eigenen Wünschen – der bild- und wortfreien Liebe und Weisheit des Seins aussetzen


  • Wir sind immer am Anfang:

    Immer tiefer und freier tauchen wir so ins Menschsein ein:
    als Mitgestalter in dieser Welt. In Dankbarkeit und Freude!

    21. Juni 2008

    Erfahrungen und Bewusstseinsebenen

    Ein Schweizer Urinstinkt hat mich heute, nach einem intensiven Schreibtag, auf die Höhen hinter Cortona gezogen. Weit sieht man hier über's Land: Nach Westen in die Toscana bis zur Hügelkette des Monte Amiata, nach Süden über den Trasimenischen See und schliesslich nach Osten weit nach Umbrien hinein, bis in die Berge der Marken. Eine wunderbare Aussicht an einem klaren, heissen Sommerabend.

    Zum zweiten Mal erwischen mich die Pollen der hier oben - auf 900m - noch und nach dem vielen Regen erst recht blühenden Gräser, denen ich in den Süden entfliehen wollte. Mein Immunsystem will mir (noch) nicht glauben, dass die Pollen keine Bedrohung sind und es sich durchaus beruhigen könnte. So kehre ich schon nach einer halben Stunde wieder um. Schade.

    Während des Zurückgehens sinniert es in mir - ich weiss nicht warum - darüber, dass viele Menschen, die von Einheitszuständen wissen oder sie erfahren haben, bei meiner Beschreibung von emotionalen Wellen, die mich halt noch immer gelegentlich auf dem linken Fuss erwischen, wohlmeinend bemerken, dass doch alles das Eine sei. Natürlich! Das weiss ich auch, und trotzdem ......

    Man kann sehr wohl um die Einheit alles Seins wissen, und auch den Weg dorthin meist schnell wieder finden. Und trotzdem ..... Solange wir im spirituellen Bewusstsein noch nicht so integriert sind, dass wir diese Ebene ganz bewohnen und uns darin eingerichtet haben, werden uns die ungeliebten Aspekte, mit denen wir nicht so gerne konfrontiert sind, immer wieder zurückholen, bis wir sie angenommen, das heisst auf sie so eingegangen sind, dass sie zu unseren Vertrauten geworden sind. Sie werden sich auch dann vielleicht noch regen, aber eben: Sie sind vertraut und vermögen uns deshalb nicht mehr zu überrumpeln. Oder doch?

    Das ist ein langer Weg (hier spreche ich im Gegensatz zu den Praktiken zur ((vorübergehenden)) Seinserfahrung noch immer von einem Weg). Bis, wie Sri Aurobindo sagt, alle inneren Ebenen so mit uns verbunden sind, dass wir immer klarer Ausdruck des Seins sind und die Welt absolut offen wahrnehmen: von Zelle zu Zelle, von Empfindung zu Empfindung, von Emotion zu Emotion, Herz zu Herz, Geist zu Geist und GEIST zu GEIST. Es ist ein Lebensweg der Achtsamkeit im Umgang mit den Herausforderungen, wie sie uns der Alltag laufend präsentiert. Eine liebevolle Achtsamkeit, welche sich den eigenen Begrenztheiten in unbedingter Liebe zuwendet; fördernd, denn alles andere, würde die Aspekte, auf die wir weniger Stolz sind, wieder in ihr Versteck verbannen.

    Ja, ja, ja: Alles ist Manifestation des Einen. Und es ist alles gut, wie es ist. Und es zieht mich - und wohl viele andere - weiter hinein in dieses beherzte Menschsein. Immer tiefer! Ins Lebensglück!

    16. Juni 2008

    Pinturicchio in Spello und Beato Angelico in Cortona: Trans-religiöse Erfahrungen

    Der Besuch der Pinturicchio-Schau hat uns inspiriert, die Capella Baglione in der Kirche Santa Maria Maggiore in Spello zu besuchen. Von den drei grossen, wandfüllenden Fresken hat jenes mit der Verkündigung meine Aufmerksamkeit gefesselt.

    Einem spirituellen Spieltrieb folgend stellte ich mich körperlich hinein, in die Vorstellung der Gestalt Marias, die aus ihrem Blick und der Haltung des Kopfes sprechende Hingabe übernehmend. Dann stellte ich mir die Taube und den von ihr ausgehenden Lichtstrahl als unkörperliches geistiges Phänomen vor, und wie dieser Lichtstrahl meinen Scheitel berühren würde. Mein Freund Ueli machte mich auf den von der Wolke (links oben) herabschauenden "lieben Gott" aufmerksam; als Bild, dem wir heute in einem materiellen Verständnis nicht mehr zu folgen mögen. Meine Antwort, sich hinter diesem Bild das Wunder des Seins vorzustellen, von dem wir uns kein Bild zu machen vermögen, nahm ich gleich mit in mein Experiment hinein: Als Urgrund der Taube und ihres Lichtstrahls. - Ein kühles, zartes Licht umfing mich, änderte meinen Zustand von innen her, in ein stilles, andächtiges Glück. Ich beschrieb mein Spiel auch den beiden Freunden, Ueli und Francie. Ich habe sie (noch) nicht gefragt, wie das für sie war.

    Mir ist dabei auf eine andere Weise klar geworden, wie Künstler, die "erfahren" haben, diesen Erfahrung in den Bildern ihrer Kultur und ihrer Zeit Ausdruck geben. Das zeitlose Wirkliche liegt hinter solchen Bildern, die uns auf ihre unaussprechliche Weise zu berühren vermögen.

    Ein anderes Beispiel solcher Art mystischer Ausstrahlung vermittelt für mich die Verkündigung von Fra Beato Angelico, die im Museo Diocesano von Cortona hängt. Jedesmal, wenn ich in Cortona bin, lasse ich mich von diesem besonderen Bild wieder neu berühren.

    Wie der Engel mit Bestimmtheit auf das Herz Marias zeigt, aus dem das Neue - die Eine Liebe: das ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben - geboren werden will, berührt mich immer wieder ganz unmittelbar. Vermöchte diese Maria - für mich: Ausdruck des allumfassenden Weiblichen - der männlichen Kraft dieses Engels zu widerstehen?

    Und: Könnten wir "Kultur" definieren, als die Art und Weise, wie sich das Eine in Bildern - auch in Musik oder Worten - ausdrückt, die dem jeweiligen Erfahrungsraum der Menschen entsprechen?

    Sonntag in Cortona

    Gestern war Sonn(en)tag: in vielfacher Weise. Ich wurde - erstmals in diesen letzten vierzehn Tagen - von hellem Sonnenschein geweckt. Hier (rechts) der Blick über die Dächer von Cortona von der Terrasse meines kleinen Stadthauses. Im Hintergrund der Lago Trasimeno. Auf dem untenstehenden Bild habe ich ihn etwas näher herangezoomt. Hinter dem Hügel auf der linken Bildseite liegt - etwa 30 Kilometer entfernt - Perugia. Dort habe ich mich heute mit Freunden vereinbart, um die grosse, dem aus Perugia stammenden Maler Pinturicchio gewidmete Schau in der Galleria Nazionale zu sehen. Doch davon später mehr.

    Ich bin mit einer Leichtigkeit aufgestanden, die mir während der letzten Woche etwas abhanden gekommen war. Mag es das kühle und oft trübe Wetter gewesen sein oder - wohl eher? - die etwas zähe Arbeit an der Aktualisierung eines Artikels, den ich vor sieben Jahre zum Thema einer neuen Unternehmensethik geschrieben hatte. Ganz anders als die Arbeit in den ersten Tagen nach meiner Ankunft, wo mir ein neuer Artikel "Anfängergeist" für einen geplanten Sammelband über Erfahrungen mit Meditation einfach aus den Fingern geflossen war. (Beide demnächst als "Downloads")


    Heute Morgen war die Leichtigkeit einfach da. Sie äusserte sie auch darin, dass ich den Rucksack mit Regenschutz, Lektüre, Kamera, Reservepullover wieder auspackte und lediglich ein kleines Notizbüchlein und ein Schreibwerkzeug mit auf den Weg nahm. Dafür kam ich dann in den unerwarteten Genuss einer Bahnfahrt, wie ich sie - immer beschäftigt mit Lesen oder Schreiben - schon lange nicht mehr erlebt habe: Offen für die vorüberziehende Landschaft und Inspirationen, die ja genau dieses Raums bedürfen.

    So fallen mir zum ungeliebten Ethik-Artikel noch ein paar Dinge ein, die ihm noch fehlen: Auch jene Aspekte der Absichtlosigkeit, wo "es" uns nimmt in diese leichte, kreative Aufgehobenheit.

    "Wir können diese Aufgehobenheit nicht machen, noch nicht einmal ent-decken. Sie nimmt uns auf, in einem Augenblick der Gegenwärtigkeit, der voraussetzungslosen Hingabe an des Wunder des Seins"

    4. Juni 2008

    Cortona: Inspirationen

    Eigenartig, war die Nacht, die zweite meines diesjährigen Rückzugs in Cortona. Ich hatte den Eindruck dauernd wach zu liegen, jedoch völlig ausserhalb eines Zeitempfindens. Weit, tief und warm fühlte sich das Herz an, ohne sich auf irgendeinen Gegenstand oder Inhalt zu fokussieren. Eine feine Vibration – als licht oder kühl würde ich sie bezeichnen – durchpulste den ganzen Körper mit Haut und Haar. Das Phänomen schien vom Energiezentrum an der Schädeldecke auszugehen, aber auch mit den Energiewirbeln hinter der Stirn und dem Herzen verbunden zu sein.

    Am Abend hatte ich noch in Sri Aurobindos[1] „The Life Divine“[2] gelesen. Im Winter hatte ich es einem spontanen Impuls folgend bestellt; vor zwei Wochen bezog sich meine Freundin Annette Kaiser[3] im Austausch unserer Erfahrungen auf die drei Schlusskapitel des Buches, die ich unbedingt lesen sollte. Im letzten Augenblick packte ich den schweren mehr als tausendseitigen Band noch ein, da er genau in eine Lücke im Gepäck für Cortona passte. Beim Lesen waren mir Passagen, die ich vor einigen Jahren als unverständlich zurückgewiesen hatte, plötzlich klar: es gibt in der Bewusstseinsentfaltung eine Phase, da die vitale und emotionale Natur des Menschen dem schon immer vorhandenen geistigen Potenzial ein Signal der Wandlungsbereitschaft vermittelt; ein Zeichen für den Beginn einen Prozess, den Aurobindo als Integration der in uns wirkenden Tiefe der Evolution in ein umfassenderes, spirituelles Bewusstsein beschreibt. Dieser Impuls seitens der inneren Natur, ist nicht willentlich machbar, ein Produkt der Reifung.

    Schön wär’s, denke ich mir und spiele während meines Morgengangs zur Bar der Banchellis in Cortona sowie auf dem Rückweg über den Hügel von Santa Margherita mit meinen körperlichen Empfindungen. Die Haltung des zulassenden Beobachters führt mich während des Gehens in eine neue Erfahrung der Gegenwärtigkeit: Die kühle wie lichte Vibration erfüllt den Körper ganz fein vom Scheitel bis zu den Fusssohlen, bis hinein in die Zehen. Ja, sie scheint an den Körpergrenzen nicht Halt zu machen, ich spüre sie auch in der Erde, auf der ich gehe; nur einen Hauch von Bewusstseinstellung braucht es, um über die Körperempfindung hinaus in die grosse Einheit zu gelangen. Es ist ganz anders, ganz neu, und doch nicht fremd. Ich weiss nichts, augenblicklich, ausser dass ich die Erfahrung nicht begrenzen will, indem ich mir davon ein Konzept mache.

    [1] Indischer Weisheitslehrer und Philosoph; Schöpfer einer differenzierten Synthese östlichen westlichen Denkens.
    [2] Sri Aurobindo: The Live Divine, Lotus Press, Twin Lakes, WI 53181, USA
    [3] Spirituelle Lehrerin in der Tradition Irina Tweedies

    3. Juni 2008

    Cortona: Alte Wege, die inspirieren

    Der Regen rauscht, draussen im üppigen Grün der Natur. Hell plätschert das Wasser aus dem Überlauf der Dachtraufe. Der mehrstimmige Wasserklang dringt durch die teils zerbrochenen Scheiben des alten Gewächshauses, wo mir meine Freunde einen idyllischen Arbeitsplatz bereitet haben. Der Kuckuck ruft, wie wenn er dadurch den fälligen Frühsommer heraufbeschwören wollte.

    Direkt vor mir sucht ein Schmetterling das Freie: Unermüdlich fliegt er gegen die Verglasung an, das Loch, durch das er hineingekommen ist, vielleicht um Schutz vor dem Regen zu suchen, immer wieder knapp verfehlend. Soll ich intervenieren, ihm den Weg in die Freiheit zeigen? Seine Flügel sind zerbrechlich. Also lasse ich es sein. Ich könnte ihn ja auch erschrecken, noch weiter von der Öffnung weg verscheuchen? Da, wie er aufzugeben scheint, und sich ermüdet in den Spalt zwischen dem alten, leeren Blumentopf fallen lässt, noch ein letztes Aufflackern seiner Energie – und weg ist er, durch eine Lücke zwischen den angelehnten Scherben des Fensters. – Eine Lektion im Geschehenlassen: Handeln? Zeuge sein? Ich lasse es stehen, für den Augenblick.

    Heute Morgen war es viel klarer, eindringlicher: Ich hatte nach meiner gestrigen Ankunft den ersten Morgenspaziergang nach Cortona unternommen: ein idyllischer Weg durch die olivenbestandenen Abhänge und Quertäler, die das Haus meiner Gastgeber von der mittelalterlichen Stadt trennen; ein Wiedersehen mit vom letzten Jahr her vertrauten Gassen und Plätzen, ein Espresso macchiato in jeder der beiden Bars, wo man mich noch zu kennen scheint. Wiedererinnern, auch auf dem Weg zurück: Es ist, wie wenn die Wege hier auch nach innen führten; unvermittelte Einsichten hatten auch letztes Jahr die Arbeit an meinem Buch „Eine Welt oder keine“ immer wieder auf unerwartete Weise inspiriert.

    Diesmal zieht es mich einfach hinein, in die Seinsverbindung. Es ist still, so still wie noch nie; und weit, weit, weit. Und doch nehme ich den Weg wahr, gehe leicht über die bewachsenen, teilweise glitschigfeuchten Steine. Gleichzeitig bin ich mit dieser ruhigen Tiefe verbunden, in einem regungslosen Glück. – Mir fällt auf, wie anders dies ist, gegenüber jenen Aufwallungen von Glücksgefühlen und Dankbarkeit, das Herz überlaufend – und bei entsprechenden Gelegenheiten auch der Zunge. Auch die Dankbarkeit ist still und tief. Alles Aufgeregte ist zur Ruhe gekommen.

    In den letzten Tagen hatte mich die Einsicht bewegt, dass wir in der Begegnung mit dem Sein unsere duale Natur dem bild- und wortlosen Mysterium hingeben, das wir durch die Benennung nur weiter von unserer Wahrnehmung wegrücken. Das war es nun: diese Begegnung, zu der ich mit meinen Gedanken vielleicht eine Verbindung geschaffen hatte, auf der sie nun wiederum mich erreichte und berührte? Eine Begegnung, die schon immer auf mich gewartet hatte? Geduldig, bis ich dazu bereit sein würde?

    Und jenes überquellende Glücksgefühl des Herzens, war es nicht auch real und bei seinem erstmaligen Auftauchen nicht ebenso neu? Frisch fühlte es sich an, wie nach dem Eintritt durch eine bisher verborgene Tür. Mit vielen Menschen habe ich die Erfahrung geteilt, ihnen erzählt, von der Entfaltung des Bewusstseins; dabei die Erfahrung immer mehr zu meiner Eigenen gemacht, sie in Besitz genommen als Errungenschaft auf meinem Weg. Ganz unbemerkt muss sich die Erkenntnis dabei verfestigt haben, zu einem subtilen Schleier, der mich von der Kontinuität des Seins trennte.

    Dann, heute Morgen kam ein Neues, diese nicht bewusst gesuchte Erfahrung, inspiriert durch ein Interview zwischen dem Biologen Rupert Sheldrake und dem Philosophen Ken Wilber, auf das ich – durch Zu-Fall gestossen war. Die Wege sind wunderbar und scheinen noch immer wunderbarer zu werden, indem wir dieser Begegnung der dualen Natur mit dem einfältigen Mysterium Vertrauen schenken. Ich werde mich auch hüten, diese Einsicht als Errungenschaft zu verfestigen: wer weiss, ob es überhaupt Grenzen gibt in dieser immer neuen Öffnung zum Einen?

    Relgiöse Aufgehobenheit: prä- und transrational

    Am vergangenen Samstagvormittag stand für mich noch ein Kurzvortrag auf dem Programm; als letzte Verpflichtung vor der Abreise in meinen Rückzug nach Cortona, wo ich inzwischen glücklich angekommen bin. Es galt, die neue Reihe der „Berner Kulturgespräche“ zu eröffnen; mit einem Dialog zum Thema „Wirtschaft zum Wohl der Weltgemeinschaft“, den mein Freund Toni Gunzinger, Unternehmer und ETH-Professor, und ich mit je einem inhaltlichen Impuls einleiteten.

    Seit einiger Zeit wage ich es immer konsequenter, bei meinen Vorträgen auf ein Manuskript zu verzichten und auch die Stichworte zum Ablauf möglichst knapp zu halten. Je weiter ich zudem diese minimale Vorbereitung zeitlich hinausschiebe, umso mehr zwinge ich mich in eine Hingabe an den Augenblick und die Öffnung für Impulse zu jenen Aspekten, die der jeweiligen Zuhörerschaft am besten dienen. Diese Offenheit setzt eine ständige Bereitschaft zum Loslassen von Konzepten zugunsten des Unerwarteten voraus; das Vertrauen in diese Quelle der Intuition wächst in dem Masse, wie wir nicht nur achtsam hören, sondern ihre Impulse ernst nehmen und ihnen folgen.

    Dem vergangenen Samstag verdanke ich eine derartige Erfahrung: Während meiner Yoga-Übungen am frühen Morgen fiel mir das Bild jener Flut von Autos ein, die vor zwei Tagen den grossen Parkplatz unseres Dorfes gegenüber der Kirche sowie die angrenzenden Nebenstrassen überschwemmt hatte. Eine ältere Einwohnerin des Nachbardorfs, das mit dem unsrigen die Kirche teilt, sei gestorben, hatte ich auf meine Nachfrage hin erfahren.

    Diese breite Anteilnahme am Tod einer Mitbürgerin schien mich auf einer tieferen Ebene anzusprechen. Ich sah vor mir, wie – wohl noch bis ins letzte Jahrhundert hinein – eine Dorfgemeinschaft den ganzen Fluss von Werden und Sterben mit religiösen Feiern, Festen und Ritualen umgab. Nicht nur die persönlichen und familiären Angelegenheiten, auch die profanen Aspekte des Gemeindelebens, des bäuerlichen wie des gewerblichen Alltags waren in dieser Glaubensgemeinschaft aufgehoben; was immer geschah, ereignete sich im Rahmen der Kirchgemeinde. Darüber wachte ein Gott, dessen Wohlgefallen es zu erwerben galt, durch die Fürsprache des Sohnes, des heiligen Geistes und der Heiligen; den gottverlassenen Sündern warteten Fegefeuer und Hölle.

    Dass diese Art von Aufgehobenheit im Gefolge der Aufklärung und später der 68er Jahre zerfiel und weiter zerfällt war und ist die natürliche Begleiterscheinung der evolutiven Entfaltung des menschlichen Bewusstseins. Von der westlichen Welt ausgehend, erfasst diese Entwicklung nach und nach immer weitere Völker und spirituelle Traditionen; dies nicht zuletzt, weil sich die kirchlichen und spirituellen Institutionen noch immer dem Wandel widersetzen, sich eher in beliebiger Anbiederung übend, als den Menschen, die daran waren und es noch sind, ihre individuelle Denkfähigkeit zu entdecken, ein umfassenderes Verständnis von Religiosität anzubieten.

    Als Folge dieses Verlustes der Aufgehobenheit im Mythos erleben wir heute eine Welt, die vom Streben nach Sicherheit und Aufgehobenheit in äusseren Dingen gekennzeichnet ist; im dramatischsten Sinne des Wortes, wenn wir die Kollateralschäden wahrnehmen, die das unersättliche Erfolgsstreben anrichtet: im Bereich der Biosphäre, wie auch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft.

    Wie wunderbar würde sich diese, dem eigenen Erleben entsprungene Sicht als Einleitung in den heutigen Kurzvortrag eignen; als ein Plädoyer für eine globale, die einzelnen Religionen und spirituellen Traditionen zugleich übersteigende und umfassende Spiritualität! Eine Spiritualität jenseits der von Mythen geprägten Gottesbilder, lebend aus der Hingabe an die wort- und bildfreie eine Weisheit und Liebe! Als Basis einer gemeinschaftsdienlichen Wirtschaft.

    Doch damit nicht genug: Wenige Minuten vor Beginn der Veranstaltung meinte ein befreundeter protestantischer Theologe, mit dem ich eben „meine“ neuen Einsichten teilte, dass der Bildersturm der Reformation genau diesen Verzicht auf die Verankerung des Glaubens an äusseren Bildern gewollt hätte; entsprechend dem zweiten Gebot: „Du sollst Dir kein Bildnis machen“. Ich war perplex; denn ich hatte wohl um die historischen Vorgänge gewusst, sie jedoch nie in diesen tieferen Zusammenhang gestellt. Es ist klar: Unser wirkliches Verständnis vermag nicht über die Weite unseres Bewusstseins hinauszureichen; Weite und Tiefe bedingen sich gegenseitig.

    Der inspirierte Vortrag berührte die Zuhörer. Mein Gewinn war ein tieferes Verständnis für das Wesen der Evolution: Ein stetes Spiel, vom Finden neuer Denkweisen, die sich mit ihrer Bewährung in Konzepten verhärten, im Sog nach umfassenderer Erkenntnis wieder brüchig werden und schliesslich zerfallen, nur um wieder Raum für umfassenderes Verstehen zu schaffen. Dass es dazu, wie im Falle der Reformation, die wir im Fluss der Geschichte auch als Vorbereitung der Aufklärung sehen können, in deren späterer Ausdruck von Gleichheit und Brüderlichkeit ein rigider Kommunismus aufkeimte und wieder verging, oft mehrer Anläufe bedarf, gehört zum Spiel. Durch das unablässige Tasten der Evolution in neue Räume und die damit verbundenen Erfahrungen verändert sich die Gestalt des ursprünglichen Impulses, bis seine Form einer Mehrheit der betroffenen Menschen als glaubwürdig einleuchtet und durch die übereinstimmende Akzeptanz eine – zeitlich begrenzte - Stabilität erhält.

    2. Juni 2008

    Globales Bewusstsein und globales Mitgefühl

    Ich sitze im Zug nach Cortona. Die Fahrt wird lang sein. Eben haben wir Brig erreicht; dank dem Lötschberg-Basistunnel in nur 90 Minuten ab Fribourg. Um 15.30 werde ich gemäss Fahrplan in Cortona eintreffen und dort von Freunden abgeholt werden, in deren Haus ich die ersten 5 Tage verbringen darf. Anschliessende wechsle ich in ein kleines Haus in der Altstadt von Cortona, das ich für die verbleibende Zeit gemietet habe.

    In der NZZ habe ich soeben einen Artikel des australischen Ethikers Peter Singer gelesen: „Wer sich moralischer Verpflichtungen entzieht, wird unglücklich“. Singer verwendet dabei den Ausdruck „Moral“ nicht im Sinne auferlegter Konventionen; er meint damit eher eine Art von unspektakulärer, auf die Bedürfnisse der augenblicklichen Situation ausgerichteter, ethischer Vernunft; ich würde sie als „Logik des Herzens“ bezeichnen.

    Folgendes von ihm angeführte Gedankenexperiment, mit dem er seine Vorträge über Weltarmut und Ethik einzuleiten pflegt, ist dafür beispielgebend: „Ich bitte meine Zuhörer, sich vorzustellen, dass sie an einem Teich vorbeikommen, in dem ein Kind ertrinkt. Es ist niemand anders da, der helfen könnte. Durch die Rettungsaktion würde man allerdings seine feine Kleidung ruinieren. Fast alle sind überzeugt, dass man unter solchen Umständen eine Pflicht hat – lieber würde ich sagen, dass man dem inneren Ruf folgt – das Kind zu retten, auch wenn man dabei seine teuren Schuhe ruinieren muss. Und nun frage ich, wie sich diese Situation von der unterscheidet, in der wir uns gegenüber den ärmsten Bewohnern dieser Erde befinden. Würden wir auf ein paar teure Konsumgüter verzichten und den entsprechenden Geldbetrag stattdessen spenden, so könnten wir damit das Leben vieler Menschen retten. Viele Leute weitern sich aber zuzugeben, dass sie gegenüber den Ärmsten der Welt Pflichten haben, die vergleichbar sind mit der Pflicht gegenüber jenem ertrinkenden Kind im Teich. Aus ethischer Sicht sehe ich jedoch keinen Unterschied.“

    Die mehrfache Verwendung des Wortes „Pflicht“ hat mich zuerst irritiert, weil ich damit rasch an durch Konventionen auferlegtes Verhalten denke. Auch wenn ich dieses gegenüber der Logik des Herzens als „minderwertig“ empfinde, muss ich gestehen, dass der falsch verstandene Individualismus Vieler dafür spricht, eine (noch) nicht vorhandene natürliche Rücksichtnahme durch moralische Regeln gemeinschaftsdienlichen Verhaltens zu sichern. Auch die Option des Geldspendens muss sorgfältig bedacht sein; nicht immer ist finanzielle Hilfe der beste Weg zu einer nachhaltigen Befreiung Notleidender aus ihrem Leid.

    Was der Vergleich für mich zeigt, ist der Zusammenhang von Bewusstseinsentfaltung und empfundener Weite des Mitgefühls. Wenn die Bereitschaft mitzufühlen sich im Bewusstsein der Sippen- und Stämme auf den Kreis der Nächsten beschränkte und im Kampf um Lebensraum bereits der Nachbar als möglicherweise zu bekämpfender Fremder gesehen wurde, so dehnte sich die Weite des Mitgefühls im Verlauf der Geschichte über die Allernächsten hinaus, Ethnien und Nationen einschliessend. Allerdings steckt die Mehrheit der Menschen auch heute noch in grösseren und kleineren Konflikten um ethnische oder nationale Abgrenzung fest. Die als natürlich empfundenen Grenzen vom Eigenen zum Fremden sind nach wie vor eng; erst ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit ist dazu fähig – geschweige denn bereit - globale Zusammenhänge aus einem umfassenden Mitgefühl wahrzunehmen und dementsprechend aus einer natürlichen Logik des Herzens zu handeln. Singers Vergleich spricht dafür eine deutliche Sprache.

    Der Weg zur globalen Mitverantwortung wird lang sein, und - wie ich fürchte - auch konfliktreich; ich vermag mit bestem Willen nicht einmal eine signifikante Minderheit global Empfindender und Handelnder auszumachen. Die nächste Zukunft braucht vor allem Leader – auch im Bereich der Politik und der Medien – welche die Position globalen Wohlergehens wahr- und einzunehmen vermögen; die fähig und willens sind, ihre Einsicht in die Notwendigkeit globaler Rahmendbedingungen einer blinden und schweigenden Mehrheit glaubhaft zu machen; Rahmenbedingungen, welche mit Sicherheit die Souveränität der Nationalstaaten beschneiden und dabei auch den Lebensstil der Einzelnen begrenzen werden.
    Globalisierung des Bewusstseins meint mehr als die unendliche Geschichte der frühen Eroberungszüge, des Kolonialismus, der globalisierten Wirtschaft: Es geht um angewandte Herzenslogik aus einer den ganzen Globus umfassenden Sicht. Auch – oder vielleicht: ausgerechnet - die „schädlichen“ Entwicklungen können uns zu einem Sprung in ein neues Bewusstsein führen: Das Wohlergehen der Einzelnen ist vom Wohlergehen der ganzen Menschheit und ihrer Lebenssphäre abhängig. Kollaps – in welcher Form auch immer: Klima, Wasser, Krieg, Terrorismus, Finanzen – heisst die andere Option. Für den Fall ihres Eintritts dürfen wir uns immerhin damit trösten, dass die Natur auf das Verschwinden der Menschheit mit einem grossen Aufblühen reagieren würde.

    1. Juni 2008

    Multidimensionale Tempelrituale - Nachtrag


    Dieser Tage bekamen wir Post aus Indien: Eine Einladung zu einer grossen Zeremonie im Narasimha-Tempel in Mysore. Das ist die Gelegenheit, Narasimha, die Inkarnation Vishnus in Löwengestalt, auch im Bild zu zeigen. Siehe auch die Berichte vom 11.-13. Januar 2008.

    Morgen früh fahre ich für einen vierwöchigen Rückzug nach Cortona. Ich freue mich; auch darauf, in Form dieser Notizen wieder häufiger meine Gedanken zu teilen.

    24. Mai 2008

    Die USA verzichten nicht auf Streubomben! Wie verhalten sich verantwortliche Weltbürger?

    Seit dem 19. Mai treffen sich in Irland Vertreter von über 100 Nationen, darunter Vertreter aller Nato-Länder, mit dem Ziel, eine Vereinbarung über das Verbot von Streubomben abzuschliessen. Wer fehlt, sind die USA, die auch auf ihre Alliierten Druck ausüben: gemeinsame militärische Operationen würden durch ein derartiges Verbot behindert.

    Was können eigenverantwortliche Weltbürger tun? Was sind die gewaltfreien Wege, um in keiner Weise an der Förderung dieses Verhaltens teilzunehmen? Schliesslich finanzieren wir die Kriege der USA auf vielfältige Weise mit, denen wir uns nicht immer entziehen können.

    Aber wir können auf Reisen in die USA, soweit nicht unumgänglich, verzichten. Wir können Produkte von Firmen umgehen, deren Wurzeln in den USA liegen. Wir können dies die lokale Botschaft der USA wissen lassen. Wir können darüber zu Freunden sprechen - auch zu den US-Amerikanern unter ihnen - und auch in der Öffentlichkeit, sofern wir dazu die Mittel haben.

    Natürlich ist es nicht nur das Verbot der Streubomben, wo wir in diesem Sinne aktiv werden könnten. Irgendwann muss die Zivilgesellschaft beginnen, dort durch ihr Verhalten "abzustimmen" wo sie dazu Möglichkeiten hat. Wer ist die Zivilgesellschaft? Wir alle, sich mitverantwortlich fühlenden Weltbürger!

    18. Mai 2008

    Gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen

    In der NZZ vom Wochenende ist ein interessanter Artikel des Philosophen Otfried Höffe erschienen. Der Titel - möglicherweise von der Redaktion gesetzt - "Soziale Verantwortung zahlt sich für Unternehmen aus" und, vor allem, das Bild der beiden Clintons bei der Arbeit in einer Gassenküche wecken in mir allerdings zwiespältige Assoziationen; es kann nicht darum gehen, den äusseren Schein sozialer Verantwortung zur Gewinnsteigerung einzusetzen. Womit nicht gesagt sein soll, dass eine dem Respekt für die Schöpfung entspringende und als eigener Beitrag zum Wohl der Gesellschaft gelebte unternehmerische Verantwortung dem geschäftlichen Erfolg entgegenstehe. Im Gegenteil, wie ich aus eigener Erfahrung weiss; jedoch viel mehr als Resultat auf das Gemeinwohl ausgerichteten wirtschaftlichen Handelns, denn als prioritärer Unternehmenszweck.

    Was mir am Artikel gefällt, ist der Versuch einer Übertragung der Selbstverpflichtung in Form des hippokratischen Eids, wie ihn die Ärzteschaft seit jeher kennt, auf die Verantwortung der unternehmerischen Entscheidungsträger. Das erste Gebot hiesse dementsprechend:
    "Das Wohlergehen deines Unternehmens sei dein höchstes Gesetz". Dem würde sich das zweite Gebot anschliessen: "Du sollst auf keinen Fall dem Unternehmen schaden." Und weiter das dritte "Du sollst die Hoheit der Eigentümer wahren, den Bestand und die dauerhafte Rentabilität deines Unternehmens sichern, die Rechte und Würde der Mitarbeitenden achten, Verantwortung für die gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen des unternehmerischen Handelns übernehmen und das Unternehmen nur in ehrlichen und transparenten Transaktionen engagieren."

    Das dritte Gebot, das ich bereits in freier Formulierung angepasst habe, wäre - speziell im Hinblick auf die Verantwortung für die gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen unternehmerischen Handelns - sehr genau anzusehen. Aus einer von den eigenen Interessen und Ängsten ungetrübten Sicht auf die globalen Zusammenhänge, womit wir einmal mehr wieder bei der Verankerung des verantwortlichen Weltbürgers in einer spirituellen Aufgehobenheit wären. Ich sehe sie als Vorbedingung für weltbezogenes, von den vitalen Impulsen und den durch sie ausgelösten Emotionen freies Fühlen, Denken und Handeln.

    12. Mai 2008

    Integrale Weltbürgerkunde in fünf Schritten

    Aus dem eben eingetroffenen Newsletter des Integral Institutes zitiere ich die Ankündigung eines Gesprächs von Ken Wilber mit Jim Garrison, Präsident des 1995 von ihm gemeinsam mit Michael Gorbatschew gegründeten State of the World Forum. Das vollständige Gespräch kann auf der Website des Integral Institute angehört werden. Es sind Gedanken, die mir am Herzen liegen, und die ich - in anderer Form - auch im Buch „Eine Welt oder Keine“ ausgedrückt habe.

    "Nobody on this planet goes to bed at night hungry because of lack of food. They go to bed at night hungry because of lack of political ideas, and the lack of political systems to get them the food."

    So, finally, we come to the all-important question: "what now?" As Integral thinkers, practitioners, leaders, artists, and activists, it is essential that we live up to a new standard of global citizenship, in which some sort of civic engagement becomes as intrinsic to our personal practice as any meditation, study, or physical exercise. These inner-focused practices must be allowed to come to fruition and find full expression in the world, or else we begin to swallow our own light, rather than sharing it with those who need it most.

    Integral Civics in Five Generic Steps

    Step 1 - Wake up! Continue to practice, practice, practice, in as many fundamental areas of your life as you can. If our problems demand an Integral response, the Integral response demands your ongoing efforts to enact it. This is arguably the most important step, which is why it is the first step—but it cannot be the only step.

    Step 2 - Get informed! If you wish to do something to help the world, then you need to understand what is going on. Find perspectives that you trust, and use the Integral framework to deepen your understanding of these perspectives. While many feel that staying in touch with the news in our sound-byte-driven media can feel like standing on a mountain of marbles, there are indeed sane and stable voices out there, who retain some degree of journalistic integrity. Find those voices.

    Step 3 - Interact! Share your perspective with your friends, your family, and your community, Integral or otherwise. Pay attention to where you agree, and where you disagree, while keeping in mind that, from an Integral perspective, everyone is always right—even if some are more right than others. Simply sharing your ideas and values with others helps to further refine and focus your views, especially while keeping an eye out for your own personal and cultural shadows, biases, and blind spots.

    Step 4 - Get involved! Decide what level of engagement works for you, whether that means donating a portion of your disposable income to a particular cause or candidate that you resonate with, all the way to taking it to the streets in public protest—of course, at an absolute minimum, if you have any Integral perspective at all, you should be voting!

    Step 5 - Wake up! The alpha and omega of Integral civics. You are asleep, and are having a dream. In that dream, millions of people are suffering needlessly. What is the best way to immediately liberate all of these people, to alleviate all of this pain?

    Just open your eyes, and wake up. Now.

    1. Mai 2008

    Radikale Liebe

    Heute scheine ich einen radikalen Tag zu haben; liegt es an der besonderen Verbindung von Auffahrt und 1. Mai?

    Zuerst erschien mir nochmals die Erinnerung an die Veranstaltung "Forum Weltethos" in Fribourg, deren persönliche Eindrücke ich in meinen Notizen vom 26. und 27. April beschrieben habe. Ist diese Art des aus mythischen Gottesbildern beruhenden interreligiösen Dialogs nicht eine eigentliche Blockierung der Bewusstseinsentfaltung, hin zum eigenverantwortlichen Weltbürger, der aus einer tiefen Liebe zur Schöpfung spürt, wo, wann und in welcher Form sein Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft Sinn macht? Der aus seiner inneren Tiefe weiss, dass er als individueller Ausdruck des Einen Seins Teil dieser globalen Gemeinschaft ist und durch sein Fühlen, Denken und Handeln laufend zur kollektiven Bewusstseinsveränderung beiträgt? - Es braucht Menschen, welche dieses Festhalten im ewigen Diskurs um die Unterschiede überschreiten, und beginnen, aus der umfassenderen Einheit zu sehen und zu wirken. Sie werden möglicherweise auf lange Zeit hinaus eine verschwindende Minderheit bleiben, doch kann aus ihrer Vernetzung eine Kraft entstehen, die den individuellen Alltag überschreitet und gesellschaftlich wirksam wird.

    Später am noch frühen Morgen habe ich im Internet die Nachricht gefunden, dass Mc Cain und Clinton vorschlagen, während der Sommermonate die Treibstoffabgaben ganz zu suspendieren, damit die Amerikaner trotz der gestiegenen Treibstoffpreise ihren Sommervergnügungen per Auto nachgehen können. Was sind alle die sogenannten ethischen Bekenntnisse wert, wenn sie so schnell und opportunistisch dem eigenen Vorteilsstreben zum Opfer fallen? Und damit allenfalls noch Erfolg haben? Kennen wir dies nicht auch im eigenen Lande?

    Am Frühstücksgespräch werden die Gedanken noch radikaler. Die Klientin, die heute ihre mehrtägige Bewusstseinsarbeit abschliesst, hat infolge ihres Medienentzugs nichts von dem schrecklichen Familien- und Vergewaltigungsverbrechen gehört, das in Österreich aufgedeckt wurde. Ich habe andererseits - auch via Internet - gesehen, wie sich nicht nur die ganz Welt entsetzt - zu Recht! - sondern wie nun die Angelegenheit in all' ihren grausigen Aspekten ausgeschlachtet wird. Das Erzählen und Beschreiben führt die Gedanken weiter:
    • Die Monstergeschichte, je grausiger sie sich darstellt, erleichtert es uns, auf den einmaligen Charakter hinzuweisen, und die Sache als etwas wegzuschieben, das mit uns nichts zu tun hat. Das ist anormal, krank etc. Stimmt!
    • Aber ist nicht auch die Förderung der Luftverschmutzung durch die Senkung der Treibstoffabgabe eine Spielart, die Folgen des Handelns für die Gemeinschaft aus dem Bewusstsein wegzuschieben? Und damit noch Wählerstimmen zu gewinnen? - Und wie ist es mit den interreligiösen Diskursen um einen Gott, dessen Wohlgefallen wir verlieren oder gewinnen, während die Gläubigen in ihrer Verblendung sich selbst und die Häuser der andern in die Luft sprengen?
    • Haben wir es nicht in allen drei Fällen mit einer Verstrickung in die Triebe und Emotionen zu tun? So tief, dass sie das Fühlen, Denken und Handeln aus unserem innersten Wissen verschleiern und bestimmen? Unterschiedliche Formen und Schweregrade - durch unsere derzeitigen Strafgesetze erfasst oder auch nicht - des selben Phänomens: Blindheit für die Wirkungen unseres Tuns auf die Gemeinschaft?
    Wir tun gut daran, diesen Blick in die eigene Tiefe zu wagen und die Wirkung der unbewussten Vitalkräfte - samt ihren Konditionierungen und Verletzungen - auf unser Fühlen, Denken und Handeln wahr- und anzunehmen. Auf dass wir sie - nicht durch die Mittel von Strafe und Belohnung - durch die unbedingte Liebe und Weisheit des Herzens zum Sprechen bringen und in ihrer geheilten, versöhnten Gestalt als unentbehrliche und hilfreiche Begleiter in dieser Welt gewinnen.

    27. April 2008

    Aufgeschnappt: "Das höhere Wir"

    Eben lese ich die nachfolgenden Sätze in einer Newsletter von "What is Enlightenment" aus dem Kreis von Andrew Cohen. Auch dies eine trans-religiöse Vision eines kollektiven Feldes, aus dem sich ein Weltethos entfalten könnte. Spontan vielleicht, im Augenblick einer genügenden Sättigung des Feldes, zu der wir durch unsere bewusste Teilnahme beitragen?

    "Das höhere Wir" ist nicht Statisches. Es ist die gelebte Erfahrung und Perspektive des intersubjektiven Bewusstseinsfeldes, welches zwischen uns entstehen kann, wenn wir jenseits des Egos zusammenkommen. Darin liegt auch das Potenzial für eine völlig neue menschliche Kultur und die Verwirklichung dieses Potenzials braucht unser bewusstes Zusammenkommen auf dieser höheren Ebene.

    Wenn wir uns in diesem Feld begegnen, dann begegnen wir uns in dem Einen evolutionären Impuls, der dem ganzen Universum zugrunde liegt. Und gleichzeitig erleben wir eine völlig neue Autonomie und Individualität.

    .... und anregend: Forum Weltethos in Fribourg

    Die gestrige Erfahrung hat mich weiter beschäftigt. Eben las ich noch in Rüdiger Saffranskis "Romantik". Ich hatte ursprünglich mit dem zweiten Teil, "Das Romantische", begonnen, weil mich Saffranskis Auslegung des Weges aus der Romantik in den Nationalsozialismus speziell interessierte. Heute bin ich im ersten Teil des Buches, "Die Romantik", auf die Visionen Johann Gottfried Herders gestossen. Noch in der Vorahnung der französischen Revolution schrieb Herder: Der Denkart der Nationen bin ich nachgeschlichen, und was ich ohne System und Grübelei herausgebracht, ist: dass jede sich Urkunden bildete, nach der Religion ihres Landes, der Tradition ihrerVäter, und den Begriffen der Nationen: dass diese Urkunden in einer dichterischen Sprache, in dichterischen Einkleidungen, und poetischem Rhythmus erscheinen; also mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge ihrer ältesten Merkwürdigkeiten.

    Basiert nicht auch die Verschiedenheit der Religionen sowie ihre je verschiedenen Gottesbilder auf den ältesten Merkwürdigkeiten der Ethnien und Völker, wie sie sich auf den unterschiedlichen Wegen aus dem gemeinsamen Ursprung des Homo Sapiens in Ostafrika herausgebildet hatten? Und kann ein Weltethos anders wirksam werden als aus dem Wissen um den gemeinsamen Ursprung der Menschheit: sowohl im physischen Sinne, wie ihn die neuere Genforschung nachzeichnet, als auch im geistigen?

    Mit anderen Worten: Kann ein Weltethos lebendig werden, wenn nicht aus einem die ganze Schöpfung umfassenden Mitgefühl?

    Mit dieser Frage öffnete ich die Internetseite von Ken Wilbers "Integral naked", mich an eine einfache Einführung in die buddhistische Technik des "Tonglen" erinnernd. Hier die einfachen Anweisungen in knappster Form:
    • Verbinde Dich mit der Erfahrung des Einen Seins (bzw. der Gegenwart des Absoluten oder des Urgrundes in Dir)
    • Bringe dieses Verbundensein in den Körper. Atme die Energie der Aussenwelt durch Dein Herz ein und lasse beim Ausatmen die unbedingte Liebe und Weisheit des einen Seins in die Aussenwelt zurückfliessen
    • Wende Dich nun Deinen eigenen Emotionen zu, atme sie ein, als einen über der äusseren Wirklichkeit liegenden Schleier, und atme die unbedingte Liebe und Weisheit des einen Seins aus. Gib' den Emotionen, die Du durch das Herz einatmest nicht mehr Gewicht als dem Rückfluss von Liebe und Weisheit und hafte nicht am Einen oder Andern mit Deinen Gedanken.
    • Erweitere nach und nach das Spektrum Deiner Wahrnehmung auf die Nächsten, dein Dorf, deine Nation, die Erde, die Schöpfung. Atme den Schmerz oder die Emotionen, die Du wahrnimmar ein und lasse die unbedingte Liebe und Weisheit aus dem einen Sein zurückfliessen.
    Tonglen ist nicht auf den buddhistischen Kontext angewiesen; es könnte auch ganz anders genannt werden - und vielleicht wäre dies in einem trans-religiösen Sinne auch gut? Ich weiss auch, dass ich dem Ort und den Ursachen des Schmerzes, der durch Tonglen gewandelt wird, nicht nachzusinnen brauche. Je weiter ich in meiner Vorstellung das Spektrum meines Herzens ausdehnen kann, umso weiter wird das Wirkungsfeld von Tonglen. Und ich erlebe eine Vervielfachung der durch mich fliessenden Kraft, wenn ich mich als eines der Millionen von Wesen vorstelle, welche sich dem Wohl der Menschheit und des Planeten aus dem gleichen oder einem verwandten Geist zuwenden.

    So bin ich letztlich für die Erfahrung mit dem Forum Weltethos dankbar! Sie hat mich einmal mehr auf die trans-religiöse Dimension verwiesen, in der nach meiner Empfindung der Schlüssel für die Verwirklichung eines lebendigen und umassenden Weltethos liegt. - Dass der Weg dahin ein langer und wohl auch ein schmerzvoller sein kann, hat mir die Kostprobe des interreligiösen Gesprächs ebenfalls eindrücklich vor Augen geführt. Es sei denn, dass die Kraft des vereinigten Mitgefühls einer wachsenden Zahl bewusster Menschen exponenziell zunehme!

    26. April 2008

    Ernüchternd: Forum Weltethos in Fribourg

    Heute besuchte ich das Seminar „Dialog der Kulturen“ in der Universität Fribourg. Es fand im Rahmen der Veranstaltungen zu Ehren von Hans Küng, dem Initiator des „Projekt Weltethos“, statt, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert. Trotz den hohen Verdiensten, die dem Jubilar zukommen, hat mich die Veranstaltung in der Uni Fribourg enttäuscht und ernüchtert. Doch der Reihe nach:

    „Was du nicht willst, dass man Dir tu, ….“, die goldene Regel also, die Küng als allen Religionen gemeinsamen Grundsatz gefunden hat, wird im „Projekt Weltethos“ in vier Wirkungsbereiche aufgegliedert, welche die wesentlichen Elemente für einen Frieden in dieser Welt – unter den Menschen und mit dem Planeten – beinhalten: Eine wichtige und weltweit anerkannte Grundlage für global bewusstes Denken und Handeln, ein wert- und verdienstvolles Projekt zum Wohl der Weltgemeinschaft.

    Unter dem Titel „Dialog der Kulturen“ sprachen eine Frau und zwei Männer als Vertreter der drei monotheistischen Religionen über die jüdische, christliche und islamische Sicht auf das Weltethos; eine Philosophin steuerte kritische Anmerkungen aus ihrer von Vernunft und Klarheit geprägten Sicht bei. Dabei legten die Vertreter der Religionen Zeugnis ab für die Schwächen des interreligiösen Dialogs, indem jede und jeder die Vorzüge des eigenen Glaubens pries; das Licht des einen Geistes, der hinter den unterschiedlichen Offenbarungen leuchtet, vermochte lediglich als eine göttliche, unser Verhalten bewertende Instanz durch zu schimmern. Ein Weltethos also, den eine höhere Macht uns auferlegt? Nicht innerstes „Wollen“, sich ihrer Gestaltungsfreiheit bewusst werdender, eigenverantwortlicher Weltbürger? Aus einer unbedingten Liebe zum Wunder dieser Schöpfung?

    „Wie kommen wir – die Einzelnen und die Gesellschaft – vom Sollen zum Wollen bzw. zum Tun ? Wissen wir doch, was es von uns braucht und tun es nicht?“ fragte ich in die Schlussrunde, das noch Fehlende ansprechend, damit aus dem deklarierten Weltethos auch lebendige Wirklichkeit werde.

    Die Antworten waren ernüchternd: Die Vertreter/in der monotheistischen Weltreligionen kamen zurück auf ihre Referate, in denen sie sich - in unterschiedlichen Worten - auf einen Gott berufen hatten, dessen Offenbarung diese ethischen Regeln entsprächen und vor der wir am Lebensende Rechenschaft abzulegen hätten; auch von Plus- und Minuspunkten war die Rede, je nach Art der Absicht oder Tat von je unterschiedlichem Gewicht.

    Dementsprechend verstanden die Religionsvertreter unter „Sollen“ die Angst vor Verfehlung und Strafe, unter „Wollen“ das Streben nach göttlichem Wohlgefallen. Damit boten sie der sich auf Vernunft statt Metaphysik berufenden Philosophin ein leichtes Spiel. Die Frage, was es brauche, damit der ethischen Deklaration auch vernunftgeleitetes Tun folge, mochte sie allerdings auch nicht beantworten.

    Meine unter vier Augen vorgebrachte Frage, ob denn der von ihr angeführte „tugendhafte Atheist“ - wenn er aus innerem ethischen Empfinden wahrhaftig denke und handle - in Wirklichkeit nicht auch „religiös“ sei, wehrte die Philosophin mit der Bemerkung ab, dass damit der Begriff der „Religion“ schwammig und unfassbar würde.

    Ginge es heute nicht gerade darum, eine universelle Trans-Religiosität zu finden, die auf der Gegenwart der unbedingten Weisheit im innersten jedes Menschen beruht? Und wäre der Übergang vom „Sollen“ zum „Wollen“ und zum Tun nicht dort zu finden, wo ein Welt-Ethos im innersten der Menschen lebendig wird? – Der Weg dahin scheint noch weit zu sein?

    23. April 2008

    Freie Liebe - ein Text von Sabine Lichtenfels

    Dieser Text von Sabine Lichtenfels, Mitgründerin der Gemeinschaft Tamera in Portugal, hat mich sehr berührt:

    GRACE und freie Liebe
    (Auszug aus einer frei gesprochenen Rede von
    Sabine Lichtenfels auf der Tamera-Sommeruniversität 2007)


    Es kann keine freie Liebe geben ohne eine tiefe Anbindung an die Spiritualität.
    Wenn mein ganzes Denken geprägt ist von Verlustangst, werde ich immer im Vergleich leben.
    Ich werde immer verteidigen und in dem Moment, wo die Angst einsetzt, geht man über in eine Kampfeshaltung. Ich kann aber auch in den tiefen Zustand des Vertrauens eintreten, zurückkehren zu mir selbst, zu der Frage: "Wer bin denn ich?"

    Ich kann nur lieben, wenn ich wieder eintrete in diesen Zusammenhang mit der Welt und meine Aufgabe erkenne. Ich muss daran glauben, dass es auch für mich eine Aufgabe gibt.
    "Ich bin geliebt."

    Hier spürt man, wie viele Jahrtausende von Geschichte wir - wir Frauen und wir Männer - abwerfen müssen, bis wir zu diesem Grundgefühl zurückkehren können: "Ich bin geliebt als sexuelles und sinnliches Wesen von der heiligen Quelle des Lebens."

    Ich werde dann auf einmal bemerken, dass meine Freiheit nicht darin besteht, beliebig zu sein, sondern darin, meine Aufgabe zu erkennen und anzunehmen. Ich werde dann auf einmal merken, dass es gar keine privaten Liebesbeziehungen gibt, sondern dass sich alles vor dem Hintergrund eines universellen Geschehens ereignet.

    Die Sonne hat ihre Freiheit darin, dass sie scheint. Sie wird nicht morgens erwachen und sagen: "Oh, ich habe keine Lust zu scheinen." Und sie wird sich auch nicht vom Mond erpressen lassen, indem der Mond sagt: "Du darfst nur für mich scheinen." Die Sonne wird ihre göttliche Quelle dadurch erfüllen, dass sie sich verschenkt.

    Und das übertragen: Eine Frau, die ihre Verbindung wieder gefunden hat zur göttlichen Quelle und zur Führung wird ihre Liebe dadurch verwirklichen, dass sie lernt zu dienen, achtsam zu sein, wahrhaftig und verschenkend. Auf einmal ist es von großer Bedeutung, wohin mich die Göttin heute führt. Ich werde in das Vertrauen eintreten, das mir sagt, wenn die Göttin eine tiefe Partnerschaft für mich vorgesehen hat, wird sie mich von selbst dahin führen, ich muss keine Erpressungsmanöver unternehmen, um eine Partnerschaft zu erhalten.

    In diesem Zustand des Vertrauens frage ich nicht: "Was kriege ich?" Ich trete auch nicht in dieses unersättliche Begehren ein gegenüber dem Mann oder gegenüber der Frau, aus dem Glauben, nie satt zu werden.

    Freie Liebe hat nichts mit Konsumverhalten zu tun, sondern dass man weiß: Alles, was mir begegnet, ist göttlich.

    21. April 2008

    Universelle Spiritualität - Gedankensplitter (2)

    Während eines Vortrags für eine Gruppe von deutschen Buchhändlern, am vergangenen Samstag, entwickelte sich in mir spontan eine Abfolge von "Transformations-Scharnieren" auf dem Weg zu einer freien und alltagsbezogenen Spiritualität.
    • In Augenblicken totaler Gegenwärtigkeit kann sich die Tür zu einer zweifellosen Aufgehobenheit im Sein öffnen. Oft schreiben wir diese Erfahrung ungetrübten Glücks den äusseren Umständen zu, die uns für einen Augenblick in ein vollständiges Einvernehmen mit dem Jetzt, in ene absolute Wunschlosigkeit geführt haben. Wenn wir lernen, diese Augenblicke als Seinsfühlungen zu verstehen, können wir ihre Wiederholung jeweils bewusst zulassen und uns darauf einlassen. Durch diese Übung - auch eine Form von Meditation - lernen wir einen Raum der Aufgehobenheit in unbedingter Liebe und Weisheit kennen; die unendliche Liebe, die uns mit einer ewigen Sehnsucht angezogen hat, durch unendlich viele Zwischenhalte und Enttäuschungen in ihrer Natur nach vergänglichen Situationen.
    • Aus dieser Sicht wird ein tiefes Mitgefühl für die Suche aller Menschen - wo immer sie im Augenblick darin stehen - erfahrbar. Ein Mitgefühl für die eigene Begrenztheit und die aller Andern. Mitgefühl auch für die evolutive Entfaltung der Schöpfung und des menschlichen Bewusstseins mit allen Widerständen, Irrungen und Transformationen auf dem Weg: die Entfaltung des Einen durch diese Schöpfung - ein Bild, das mich mit tiefer Liebe für diese Welt in ihrer Schönheit wie in ihrer Zerrissenheit zu erfüllen vermag.
    • Diese Sicht kann uns in ein Verständnis führen für die Aufwallungen unserer unbewussten vitalen und emotionalen Impulse, samt ihren Konditionierungen und Verletzungen, wenn sie von äusseren Ereignissen angeregt werden. Und das Wissen, dass - wenn wir diese Emanationen des Unbewussten ans offene Herz nehmen und sie mit der unbedingten Liebe verbinden - ein Raum der Wandlung entsteht. Ein Raum, der uns eine immer wachsende Freiheit von der menschlichen Bedingtheit durch die vergangenen Epochen der Evolution schenkt. Die Freiheit zu einem vom ungetrübten Herzen geleiteten Denken und Handeln.
    Die Verbindung dieser drei Erkenntnisse gibt uns das Potenzial, Herausforderungen, wie sie uns das Alltagsleben laufend präsentiert, aus dem offenen Herzen zu begegnen. Wir verstehen sie als Wachstumschancen, die unser Leben zunehmend reicher machen: jeder Aspekt des Unbewussten, den wir auf diese Weise integrieren können, wird zu unserem Helfer.

    Damit die Früchte der drei genannten Erkenntnisse lebendig bleiben, braucht es eine vierte:
    • Die Hingabe an die Eine Quelle, als ein uns umfassendes Du: Die transformative Kraft der unbedingten Liebe, die uns aus der Macht des Unbewussten befreit, sowie die innere, auf die Anforderung des Augenblicks bezogene Führung bedürfen immer wieder der Hingabe an ihre Quelle im Einen Sein, dem Ort unserer tiefsten Aufgehobenheit. Es bedarf grosser Achtsamkeit und unbeirrter Übung, diese Stimme der Einen Liebe und Weisheit von jenen der Wünsche, Ängste und Bedürftigkeiten zu unterscheiden, die mit zur menschlichen Bedingtheit - und damit der Schönheit des Lebens in dieser wunderbaren Welt - gehören.
    Die Suche nach den stimmigen Worten geht weiter!

    17. April 2008

    Schattenspiele: In der Oper wie in der Welt

    Aus einem Brief an Claus Helmut Drese*

    (Anlässlich eines Besuches in seinem Haus im Blenio-Tal hatten wir uns, insbesondere im Zusammenhang mit den Judenvernichtungen im Deutschland des 2. Weltkriegs und dem gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikt, über die Wichtigkeit der Aufarbeitung kollektiver Prägungen unterhalten und sind dabei - wie zufällig - zur letzten Zürcher Zauberflöte gelandet, die wir beide spontan als Entfremdung von Mozarts Oper abgelehnt hatten.)

    Gleich wie unsere Diskussion um die Verdrängung von historischen Demütigungen und Niederlagen auf kollektiver Ebene und die Manifestation dieser gemeinschaftlich verdrängten Komplexe im Weltgeschehen, hat mich auch das Gespräch über die letzte Zürcher Zauberflöte nicht losgelassen.

    E-Dur – die Tonart von Sarastros Arie „In diesen heiligen Hallen“ – sei eine böse, von Mozart sonst kaum angewandte Tonart, sagt offenbar Nikolaus Harnoncourt. Er nimmt dies als Indiz, Mozart habe Sarastro nicht in der Rolle des weisen und guten Herrschers gesehen, als der er bis jetzt in der Rezeptionsgeschichte der Zauberflöte dargestellt wurde.

    Heute, auf der Heimfahrt mit unserem reparierten Auto aus dem Tessin, setzten sich folgende Gedanken zusammen: Wenn wir – im Sinne der Psychologie des Unbewussten – in der Figur der Königin der Nacht Sarastros verdrängte weibliche Seite sehen und im Moor Monostatos seine dunkle, ungeliebte männliche Seite, die er zum Schluss beide aus seinen heiligen Hallen verbannt, dann ist Sarastros Reich in der Tat eine hohle, nur scheinbar gute Welt, und er selbst ein, seine Schattenseiten negierender Gutmensch. So gesehen sind auch die beiden Priester, die Tamino und Papageno auf ihrem Läuterungsweg führen, Vertreter einer hohlen, die animalischen Instinkte verurteilenden Welt. Pamina und Tamino werden in diese heile Welt aufgenommen; ihr liebenswürdigeres Schattenpaar wird ausgeschlossen, darf aber immerhin im „Urwald“ weiterleben.

    Wenn wir die ganze Zauberflöte als Sarastros inneres Schauspiel sehen, eröffnet sich vielleicht doch der Raum für neue, unserer Zeit entsprechende Regiekonzepte. Und vielleicht möchte ich die Zürcher Inszenierung, die ich nur vom Fernsehen her kenne, doch nochmals daraufhin ansehen? Ich kann mich auch kaum mehr noch daran erinnern.

    * (ehem. Direktor des Opernhauses Zürich, der Staatsoper Wien u.a.)


    7. April 2008

    Universelle Spiritualität - Gedankensplitter (1)

    "Menschen folgen auf Menschen,
    und sie erheben die Lüge zur Religion.
    Welche Generation könnte sagen,
    sie sei im Besitz der wahren Richtung?"


    Von wem und woher dieses radikale Zitat stammt? Vom blinden islamischen Dichter al-Ma'arra (973-1058). Er ist in der nordsyrischen Stadt Ma'arra geboren, hat in Aleppo studiert, in Bagdad gewirkt und ist um die Lebensmitte wieder zurück in seine Geburtsstadt gezogen.*
    Das Thema einer universellen oder trans-religiösen Spiritualität in einer modernen Formulierung, in der sich allle Religionen und Traditionen wieder finden können, ebenso wie jene, die den Institutionen den Rücken gekehrt haben, steht zur Zeit im Zentrum meines Suchens.
    Wenn wir die Religionen und spirituellen Wege wie verschiedenfarbige Laternen sehen (ein Bild, das ich von Frithjof Schuon übernehme**), ist es ein Einziges Licht, das sie alle erhellt. Nur die Farben, hinter denen das Licht leuchtet sind verschieden. Aus dieser Perspektive sind alle Religionen und ihre Wege Zubringer zum Einen.
    Mündige Menschen wollen nicht nur vom Einen Licht hören, sondern es erfahren. Darum geht es mir bei meiner Suche, die mich mit vielen Anderen verbindet. Ein Forschungs- und Erkundungsprojekt in Zusammenarbeit mit Vertretern verschiedener Wege ist in Vorbereitung; vielleicht will daraus dann nochmals ein Buch werden. Es wird sich zeigen.
    Mehr darüber in loser Folge.

    * Abdelwhab Meddeb: Die Krankheit des Islam. Zürich, 2007
    ** Frithjof Schuon: Von der inneren Einheit der Religionen. Freiburg i.Br., 2007

    30. März 2008

    > Lebenswandel(n)

    Oft - so wie heute - geniesse ich es, den Sonntag mit einem ausgiebigen Aufenthalt in der Badewanne zu beginnen; am liebsten mit einem inspirierenden Buch. Bei der Wahl der Lektüre hat mich diesmal ein Büchlein angelacht, das schon seit einigen Wochen unscheinbar auf meinem Schreibtisch liegt: "Lebenswandeln - Vom guten Umgang mit Veränderung" von Edmond Tondeur, der vor vielen Jahren meinen Wandel vom oft schwerhörigen Solisten zum Kammermusiker ganz wesentlich mit in Gang gebracht hat.

    Das kleine Buch ist reich an Gedankenanstössen, und es lohnt, in kleinen Portionen gelesen zu werden; damit nicht die eine Blüte die andere übertönt, bevor die Resonanz der ersten ganz aufgehen konnte. Ich habe auch alte Bekannte getroffen, die ich aber noch nie so gelesen oder gehört habe, wie eben jetzt. Etwa den Anfang eines Gedichts des persischen Mystikers Rumi:

    "Achte gut auf diesen Tag,
    denn er ist das Leben -
    das Leben allen Lebens"

    Oder die letzten Verse von Goethe's Gesang der Geister über den Wassern, deren Weisheit mir erstmals so bewusst geworden ist:

    Wind ist der Welle
    lieblicher Buhler;
    Wind mischt vom Grund aus
    schäumende Wogen.

    Seele des Menschen,
    wie gleichst Du dem Wasser!
    Schicksal des Menschen,
    wie gleichst du dem Wind!

    Es sind Edmond Tondeurs feinsinnige Texte, von erfahrenem Lebenswandel geprägt, die mich eben für eine neue Tiefe hellhörig gemacht haben. Auf den ersten Blick wenig spektakuläre Sätze, wie diese:

    Es kann sich lohnen, das, was Sie gerade tun, einmal in Zeitlupe wahrzunehmen; Schritt für Schritt anzuschauen, wie sich Ihr Leben gerade jetzt an diesem Tag abspielt. Wenn Sie dann, in der Rückschau auf das Beobachtete, sagen können: "Dies war mein Lebenswandel heute", dann begreifen Sie ganz real die Tragweite dieses Satzes. Sie erkennen, dass Sie auf dem Bindestrich zwischen Ihrer Geburt und Ihrem Sterben (denken Sie an Grabsteine!) wieder eine kleine Strecke zurückgelegt haben.

    Oder:

    Man spricht vom "Lebenswandel" dieser Frau oder jenes Mannes - und rümpft dabei vielleicht die Nase. Aber: Das schönste Kompliment, das ich einem Menschen machen kann, ist, dass er sein Leben wandelnd verbringt. Lustwandelnd, wenn's sein darf, und ebenso, weil unvermeidbar, leidwandelnd.

    In seinem Echo auf mein Buch "Eine Welt oder keine" schreibt mir Edmond Tondeur: ... Es geht darum, dass sich jeder und jede dem, was ihm/ihr in der konkreten Lebenssituation als Anfrage (Auftrag) des Lebens begegnet, zur Verfügung hält (und sei es noch so klein, unspektakulär, unbeachtet). Dies begründet, so wie ich es verstehe, eine "Alltags-Mystik", die nicht elitär unterscheidet zwischen den "Grossen Fragen" (z.B. an Konferenzen) und dem "ganz normalen Kleinkram" (in den Wohnstuben). "Mitgefühl" ist in diesem Zusammenhang - das wirst Du kaum anders sehen - ein Schlüsselwort.

    Danke, Edmond, für Deine Gedanken, Dein Buch, Dein - wie ich weiss - wirksames Sein!
    Den Lesern dieser Zeilen empfehle ich das kleine Büchlein von Herzen!

    28. März 2008

    > Das Sri Yantra und der Stern Davids: Verbundenheit im ewigen Augenblick


    Im Januar, während meiner Indienreise, habe ich meine spontane Schau von zwei Dreiecken beschrieben, die sich schliesslich in einer Figur verschränkten, ähnlich dem indischen Sri Yantra (Symbol für das Göttliche) und dem Stern Davids (Symbol des Judentums). Gestern sprach mich Annette Kaiser darauf an und fragte nach meinem Verständnis dieses Diagramms. Meine Verdeutlichungen habe ich in aufrechter Schrift in den kursiv dargestellten Textauszug hineingestellt.

    Ob diesem Frieden lacht mir das Herz, dessen Waerme ich schon beim Fruehstueck gespuert habe, als ich einem anderen Gast von meiner beglueckenden Arbeit erzaehlte; und ich weiss, dass diese Herzenswaerme meiner innersten Quelle entspringt. Nun ist es, wie wenn die ganze Welt um mich, auch von dieser Herzenswaerme erfuellt waere: wo ich hinschaue, schwingt es mir so entgegen. Das ist die Basis eines imaginaeren Dreiecks: die Resonanz des Einen in meinem Herzen am einen, die Resonanz des Einen in der Umwelt am anderen Ende. Und darueber die Spitze: der eine, ungeteilte Urgrund. Und wieder saugt mich die Erfahrung unwiderstehlich in sich hinein. Ich bin alle drei zugleich, kann vom einen ins andere wechseln oder ganz im Dreieck sein.
    Die Herzverbindung von Innen- und Aussenwelt bildet die Basis des Dreiecks, das Eine die Spitze.

    Dann mache ich mich auf den Abstieg von der Huegelspitze und setze mich etwas weiter unten nieder. Auf den bequemen Baenken unter schattigen Baeumen, ein Aussichtsplatz, der wohl vor vielen Jahren von entdeckungsfreudigen Englaendern angelegt wurde. Wie ich so vor dem alten Tisch sitze und auf die Tischflaeche sehe, tritt mir ein weiteres Dreieck vor Augen. Wieder die gleiche Horizontale: vom Herzen in mir zum Herzen in der Welt, doch diesmal ist seine Spitze nach unten gerichtet. Das Bild meint die Ausrichtung dieser inneren Verbundenheit auf den aktuellen Augenblick, auf das Denken und Handeln in der Gegenwart.
    Bei diesem, auf dem Kopf stehenden Dreieck bildet wieder um die Herzverbindung zwischen aussen und innen die Basis; die nach unten gerichtete Spitze meint das JETZT in der dualen Welt unseres Alltags.

    Schliesslich verschiebt sich das nach unten ausgerichtete Dreieck nach oben, so dass das Bild zweier ineinander verschraenkter Dreiecke entsteht: eines zeigt mit der Spitze nach oben, das andere nach unten. In Indien ist das Bild als Shri Yantra bekannt; wir kennen es auch als Davidsstern. Es wird fuer mich von nun an eine neue, von eigener Erfahrung getrankte Bedeutung haben.
    Wenn sich die Dreiecke ineinander verschränken - wie eben im Sri Yantra oder im Davidstern - steht dies für mich als Gleichzeitigkeit der Ausrichtung auf das ewige, unendliche Eine und den gegenwärtigen Augenblick in der dualen Welt. Ein Symbol für das Leben aus dem Einen in der Gegenwart: ewiger* Augenblick!

    (*Ewig: nicht im zeitlichen Sinn - Chronos - verstanden, sondern eben als mit der Ewigkeit verbundener Augenblick)